Essen. Seit Jahren streiten sich zwei Nachbarn, 62 und 75 Jahre alt, um Kleinigkeiten. Dann stach einer zu, er steht jetzt vor Gericht.
Die beiden Herren sind in einem gesetzteren Alter, führen seit Jahren als Nachbarn in einer Essener Wohnungseigentumsanlage einen Kleinkrieg. Doch anders als in vergleichbaren Fällen landeten sie mit ihrem erbitterten Streit nicht vor einem Zivilgericht, sondern direkt vor dem Schwurgericht am Landgericht Essen. Holger A., 62 Jahre alt, muss sich seit Mittwoch wegen versuchten Totschlags verantworten, weil er auf seinen 74 Jahre alten Nachbarn eingestochen hat. Mindestens fünfmal.
Das dreigeschossige Mehrparteienhaus liegt in einer ruhigen Nebenstraße im Ortsteil Überruhr-Hinsel. Viele Doppelhäuser mit schönen Gärten bilden die Nachbarschaft. Eine angenehme Wohngegend. Auch die beiden Kontrahenten wirken bürgerlich. Alkohol und illegale Drogen, die die Persönlichkeit verändern, spielen bei der Tat keine Rolle.
Angeklagter mit Krawatte
Holger A., der in U-Haft sitzt, betritt in Gegensatz zu seinem Verteidiger Volker Schröder den Gerichtssaal mit Krawatte. Kaufmann ist er und verheiratet. Allerdings hat seine Frau ihn vor zwei Jahren verlassen und ist in eine eigene Wohnung gezogen. "Wir verstehen uns immer noch gut", sagt Holger A., "aber sie hat unter dem Nachbarn gelitten und ist deshalb weg."
Die Vorgeschichte ist lang, doch die eigentliche Tat ist schnell erzählt. Am Mittwoch, 13. April, treffen die beiden im Garten gegen 17 Uhr zusammen. Holger A. kommt vom Einkaufen, sein Nachbar arbeitet im Garten. Er hält einen Bootshaken an einem Stiel in der Hand, Holger A. trägt zwei Einkaustüten und in der Hand verborgen ein mit Stoff umwickeltes Messer. "Das habe ich immer dabei", sagt der Angeklagte, "um mich gegen ihn verteidigen zu können".
Mit einem Messer zugestochen
Es gibt verschiedene Versionen, wie es losgeht. Tatsache ist, dass der Ältere mit dem Bootshaken in Richtung des Angeklagten sticht und schlägt. Und dieser wiederum mit den Einkaufstüten auf den Älteren einschlägt sowie mit dem Messer zusticht, auch als die beiden im Beet mit den Koniferen landen. Obenauf der Angeklagte, laut Opfer 100 Kilo schwer, unten der 74-Jährige, der Kopfnüsse eingesetzt haben soll. Gebissen haben beide.
Nachbarn trennen sie. Der Ältere ist lebensgefährlich verletzt, weil er zu verbluten droht. Eine Notoperation rettet sein Leben.
Nachbarn seit 30 Jahren
Seit 30 Jahren wohnen sie schon gemeinsam in diesem Haus. Dem Angeklagten gehört die Wohnung im Erdgeschoss, dem Älteren die in der ersten Etage. Außenstehenden wird nicht unbedingt deutlich, was der Grund für den jahrelangen Streit ist. Der Angeklagte sagt, sein Nachbar sei ein "Korinthenkacker", der ihm oft aufgelauert und das Leben schwer gemacht habe. Er habe immer versucht, ihm aus dem Weg zu gehen.
Zur Abwehr habe er sich eine Gaspistole gekauft und den Älteren damit bedroht. Auch mit Pfefferspray habe er ihn besprüht. "Nur zur Verteidigung", fügt er hinzu. In zwei Fällen kam auch die Polizei.
Wegziehen wollte der Angeklagte niucht
Einmal habe der Ältere ihn geschubst und auf ihn eingetreten, als er am Boden lag, erzählt Holger A. weiter. Richter Simon Assenmacher stellt die naheliegende Frage, warum er nicht auch weggezogen sei. Aber da hat Holger A. nicht dran gedacht: "Die Wohnung ist toll."
Das Opfer der Stiche wird auch vernommen. Der rüstige Rentner achtet auf Genauigkeit. Als Assenmacher bei den Personalien den Vornamen "Hans-Jürgen" zu Protokoll nimmt, betont er sofort: "Aber mit Bindestrich."
Im Haus für Ordnung gesorgt
Auch er darf die Vorgeschichte erzählen. Und er berichtet, wie er im Haus für Ordnung sorgt. Ein Beispiel? "Wir zahlen 585 Euro für Hausstrom, und er lässt immer das Licht an, wenn er in den Keller geht." Darauf habe er ihn natürlich aufmerksam gemacht.
Geschubst habe er den Jüngeren nicht, der sei gestolpert und hingefallen. "Da habe ich ihn beschimpft." Wieso das, wundert Assenmacher sich. "Na, wegen der Hausstromrechnung", bekommt er zur Antwort.
Wegziehen keine Alternative
Auch ihn fragt der Richter, warum er nicht weggezogen sei. Aber das war auch für den Älteren keine Alternative: "Ich lass mich doch nicht unterkriegen."
Das Schwurgericht wird an geplant fünf Tagen den genauen Tatablauf aufklären müssen und auch über die Frage entscheiden, ob wirklich ein Tötungsvorsatz vorlag. Für Holger A. war der 13. April nach eigenen Worten jedenfalls "ein Horrortag, weil der Nachbar hätte sterben können".