Essen. Menschen sterben, weil Daten geschützt werden, heißt es im neuen Buch des Essener Uniklinik-Chef. Und: „Wir haben die Digitalisierung verpasst.“

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert“ – diese Worte Albert Einsteins stellt Prof. Jochen Werner seinem neuen Buch „So krank ist das Krankenhaus“ voran. Und damit ist perfekt zusammengefasst, was der Essener Klinikmanager zu sagen hat: Das deutsche Gesundheitssystem ist „teuer, marode und ineffizient“ und es hat die digitale Entwicklung verpasst, befindet der Vorstandsvorsitzende und Ärztliche Direktor der Essener Universitätsmedizin. Das koste Menschenleben. Diese Tatsache endlich „flächendeckend zu erkennen“ sei vielleicht die letzte Chance das Blatt noch zu wenden. Denn Werner jammert nicht um des Jammerns willen: Er verbindet seine erschütternde Analyse des Ist-Zustands mit konkreten Vorschlägen zur Lösung des Problems, seiner Idee eines „Smart Hospitals“. Am 8. September erscheint das 350 Seiten dicke Werk.

Gnadenlos legt der frühere Hals-Nasen-Ohren-Spezialist den Finger in die Wunde. Und er verschont dabei niemanden, nicht einmal die eigene Zunft. Denn „toxische Führungspersönlichkeiten“, „Standesdünkel und Partikularinteressen“, schreibt Werner, stünden der digitalen Neuausrichtung ebenso entgegen wie die „deutsche Mentalität des Zögerns und Zauderns“, die noch unzureichende digitale Infrastruktur und der Datenschutz.

„Gesundheit muss Pflichtfach in den Schulen werden“

Prof. Werners Buch erscheint am 8. September 2022.
Prof. Werners Buch erscheint am 8. September 2022. © Klartext-Verlag

Jochen Werner, 1958 in Flensburg geboren, kam vor sieben Jahren ans Essener Uniklinikum – mit dem erklärten Ziel, unverzüglich die Digitalisierung des Hauses anzugehen. Heute ist es als „Smart Hospital“, als Krankenhaus der Zukunft, mehrfach ausgezeichnet, anderen Vorbild. Dabei geht es Werner bei der digitalen Transformation „keineswegs nur um Prozesse und um bits und bytes, sondern zunächst einmal ganz maßgeblich um die Menschen“. Wie sehr dem Arzt das am Herzen liegt, wird in jedem Kapitel des Buchs deutlich: „Von den Patient*innen aus gedacht“ hat er gleich das erste überschrieben, immer wieder kommt er auf „die alleinstehende, sich über nichts beschwerende ältere Dame auf Zimmer 23“ zurück.

Werner will die Patienten „ermächtigen“, sie zu „smarten“ Patienten machen. Gesundheit, schreibt er, „gehört als Pflichtfach in die Schule“ und ein Patienten-Vertreter mit Stimmrecht in den „Gemeinsamen Bundesausschuss (dessen Richtlinien über die medizinischen Leistungen für Versicherte entscheiden). Der Klinikchef schwärmt von einem „Avatarkrankenhaus“, aber er arbeitet sich ab auch an heute Alltäglichem: an schlechtem „Service“ und Beschwerden darüber, die die richtige Adresse nie erreichen; oder an einer Krankenhaushygiene, die ihren „Erfolg“ an der verbrauchten Menge von Desinfektionsmitteln misst.

„Medizin von morgen erfordert auch einen neuen Typus Arzt“

Denn Werner denkt das Krankenhaus dabei sehr viel weiter, als es heute verstanden wird: von Prävention bis Rehabilitation, auch das Sterben spart er nicht aus. Die Digitalisierung könne die Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Medizin aufbrechen, meint er und skizziert die Möglichkeiten einer „patientienaufnahme@home“ und der elektronischen Patientenakte. Er erklärt, was Patienten von KI-basierter Diagnostik und personalisierter Medizin haben, er fordert Gesundheits-Apps auf Rezept sowie den Aufbau eines „genbasierten“ Datenpools für Krebs-Betroffene.

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och die Medizin von morgen, so Werner, erfordere zudem einen „neuen Typus Mensch“: Ärzte, die „offen, selbstkritisch, serviceorientiert, interdisziplinär und interprofessionell denken“, mehr am Wohl ihrer Patienten als an der persönlichen Reputation interessiert seien. Das „Mindset“, das Umdenken, sei gerade für die Digitalisierung entscheidend. „Veränderung“, so Werner, „beginnt im Kopf und nicht bei der Hardware-Beschaffung“.

„Datenkommerz“ als neue Finanzierungsquelle für Krankenhäuser

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Ausführlich befasst er sich mit der Neustrukturierung der deutschen Krankenhauslandschaft (in der er die Unikliniken wenig überraschend in entscheidender Rolle sieht) sowie dem aktuellen „Pflegenotstand“ – der schon vor 30 Jahren von Ärzten angeprangert worden sei. Bessere Bezahlung, der Verzicht auf Zeitarbeit, eine „signifikant gesteigerte“ gesellschaftliche Akzeptanz oder Perspektiven zur Weiterentwicklung mit fortschreitender Berufsdauer könnten Ansatzpunkte zur Besserung werden, denkt Werner – ebenso wie die Digitalisierung, weil diese Pflegekräfte von „patientenfernen“ Aufgaben entlaste.

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Jochen Werner ist bekannt für klare Worte und als kreativer Geist. Dass er keinen Gedanken ungedacht lässt, beweist er mit seinen Ausführungen zum Datenschutz. Er kritisiert ihn als überzogen, als Hemmnis bei der Vergabe großer internationaler Studien. Es müsse zukünftig erlaubt sein, „aus medizinischen Daten zu lernen und personenbezogene Daten zielgerichtet zu erheben“, schreibt er, denn: „Ohne eine intensivierte Datennutzung kann und wird das kranke Krankenhaus nicht mehr gesunden.“ Doch mit dem Verkauf von Gesundheitsdaten, die in den Kliniken gesammelt werden, will er Krankenhäuser künftig auch neue Finanzierungsmöglichkeiten erschließen. Pharmafirmen zahlten viel Geld dafür...

40 Jahre Praxiserfahrung als Arzt, Forscher und Klinikmanager

Werner lockert seine theoretischen Ausführungen immer wieder durch erlebte „Anekdoten“ auf, er schöpft dabei aus 40 Jahren Praxiserfahrung als Arzt, Forscher und Klinikchef. Oft streut er auch Persönliches ein, etwa, dass er – heute Mitglied der ehrwürdigen „Leopoldina“, der Nationalen Akademie der Wissenschaften – in der Schule dreimal sitzen blieb (und warum). Für Eilige sind die wichtigsten Begriffe im Buch fettgedruckt. Tatsächlich lohnt es sich, nicht nur diese zu lesen.

Prof. Dr. Jochen A. Werner: So krank ist das Krankenhaus. Ein Weg zu mehr Menschlichkeit, Qualität und Nachhaltigkeit in der Medizin, Klartext-Verlag, ISBN 978-3-8375-2529-8, 350 Seiten, 30 Euro.