Essen. Seit sechs Wochen leben die Beckmanns mit der ukrainischen Familie Yurkivskaja zusammen. Es war eine Herausforderung. Nun geht es weiter.
Ein bisschen deutsch kann Opa Ivan schon: „Rote Beete“ und „Hühnerbein“ und „Borschtsch“ – wollen wir das zählen lassen? Und Mama Natalia hat Blumen und Gemüse gepflanzt im Garten ihrer Gastfamilie, was Helen Beckmann kaum glauben kann, denn Johannes ist Gartenbauer, „und ich darf höchstens Brennnesseln rupfen“. Aber er hat es sogar durchgehen lassen, als Natalia Zwiebeln in sein Blumenbeet gepflanzt hat. Speisezwiebeln.
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Und nun ziehen die vier aus Kiew schon weiter, nach rund sechs Wochen auf dem Pferdehof der Beckmanns in Essen-Schuir, aber nur in ihre eigene Wohnung in der Nähe, was sie alle als Erfolg verbuchen. „Klar, es ist zu viel gewesen“, sagt Johannes. Die Beckmanns haben ja selbst vier kleine Kinder, die in einen Raum zusammen ziehen mussten, als die Gäste kamen (wir berichteten). Aber sie würden es wieder machen – wenn sie es nicht schon gemacht hätten. „Erst mal müssen wir nun als Familie zur Ruhe kommen“, sagt Johannes. Und sie wollen die Gäste ja weiter gut betreuen, wenn sie Nachbarn geworden sind. Besonders dann.
Sie kennen eine andere ukrainische Familie, der zwar bei Amtsgängen geholfen wurde. Ansonsten lebte sie einige Wochen recht einsam in einem Souterrain. Sie ist jetzt weitergezogen. Das ist vielleicht auch normal. Einige Ukrainer, hört man, haben nach ein paar Wochen der Orientierung in Deutschland neue Pläne entwickelt, ziehen weiter, ins Münsterland, nach Berlin, nach Norwegen oder Kanada. Dass die Yurkivskas in Essen bleiben, hat wohl viel mit ihren Gastgebern zu tun. Sie sind nur zufällig in Deutschland gelandet, weil sie einen gebrechlichen Nachbarn begleitet hatten. Und nun ... haben sie eine Verbindung fürs Leben aufgebaut – unter schwierigsten Bedingungen.
Jeden Abend brütete Yuriy über der Statistik des Krieges
An der gerade zwölfjährigen Daria, sagt Helen, „prallt der Krieg noch etwas naiver ab“, als an ihrem ein Jahr älteren Bruder. Natürlich ist auch sie oft traurig und still und kompensiert mit Nutella. Aber Yuriy hat in den ersten Wochen kaum gesprochen. Nun gewinnt ihn ein warmes Abendessen für das Jetzt; er sitzt auch nicht mehr jeden Abend über der Kriegsstatistik, die die Verluste auf beiden Seiten vergleicht. Er spielt Fußball mit anderen Jungen, sein Englisch verbessert sich jeden Tag, und seit drei Wochen rast Yuriy mit dem Fahrrad zur Schule, immer mit Vollgas, stolz und frei. Als er das erste Mal allein losstiefelte, sah Helen ihn nach einer halben Stunde mit hochrotem Kopf wieder auf den Hof zu stapfen. Der Dreizehnjährige hatte sich verlaufen. Ob er nun überhaupt noch zur Schule dürfe?
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Im regulären Unterricht verstehen die Geschwister kaum etwas, aber die Deutschstunden mit anderen Zuwanderern greifen langsam. Auf dem Hof chatten beide mit anderen Ukrainern, Freunde haben sie noch keine gefunden. Und natürlich laufen die ukrainischen Nachrichten durch, auch bei Mutter Natalia, wenn sie in der Küche werkt. Bei ihren eigenen Kindern hätte sie längst „reingegrätscht“, sagt Helen Beckmann, aber hier soll ja keiner erzogen werden. Oder nur insofern: Natalia sagt, sie sehe mit Erstaunen, wie ihre Kinder im Stande sind, sich anzupassen, etwas anzunehmen. Den ruhigen Umgang von Johannes, Jonathan, David und Florens, überhaupt das Leben in der Großfamilie, das ständige Ein und Aus all der vielen Verwandten, Freunde und Bekannten, die mithelfen, Essen bringen, Ämtergänge erledigen.
Die Angst vorm „Russen unter der Haut“
Die Impfung war vielleicht der größte Konflikt. Die Gäste glauben nicht an die Gefährlichkeit von Corona, wohl aber daran, dass „der Russe unter der Haut“ landet, wenn man sich Sputnik spritzt. Biontech war dann ein Argument und zwei weitere hinzugezogene Ukrainer redeten auf Natalia und Ivan ein. Letztlich aber gab „Babuschka“ den Ausschlag. Die Mutter von Helen Beckmann ist krank „und wir hätten nicht mehr zusammensitzen können. Aber Babuschka wollten sie nicht verjagen.“ Nur Ivan, der früher als Ingenieur Sputnik-Satelliten gebaut hat, ist weiter ungeimpft, weil seine Vorerkrankungen, darunter ein Krebsleiden, noch nicht abgeklärt werden konnten. Ivan möchte nun gerne das Busfahren lernen, wünscht sich eine Papierkarte von Essen und Mülheim. Er geht jeden Morgen mit dem Hund der Beckmanns raus.
Der vielleicht schönste Tag war der Geburtstag von Daria, zugleich Tag der Einschulung. Die Beckmanns hatten selbst keine Feier in der Pandemie ausgerichtet und die Yurkivskas hatten sehr bescheiden gefeiert die letzten Jahre. Natalia und Dmitri hatten sich entschieden ihre eigene Wohnung aufzugeben und mit ihren beiden Kindern zu den Großeltern zu ziehen, um für beide ein besseres Gymnasium finanzieren zu können – in ein Zimmer, alle vier. „Wir hatten uns schon gewundert“, sagt Helen, „dass die Kinder sich nicht zoffen, aber sie waren die Enge gewohnt.“ Und nun ein Dutzend Gäste, dazu die Geschenke. Ein Computer war dabei, ausgemustert und von der Initiative „Hey Alter“ wieder fit gemacht.
Ein emotional fragiler Zustand – für alle Beteiligten
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Und die eigenen Kinder? „Denen fehlt die Vorstellungskraft, dass Yuriy und Daria bis vor ein paar Wochen ein ganz normales Leben geführt haben“, sagt Helen. „Das macht den Ältesten nachdenklich. David fragt dann: „Was sind das für Waffen, was sind das für Panzer? Man darf ja nicht auf andere schießen, aber das hier scheint wohl ein anderer Fall zu sein.“ Es ist eng, nicht nur morgens in der Küche, wenn normalerweise ein zügiges Programm abläuft; und man teilt diesen emotional fragilen Zustand, denn natürlich ist ihrer aller größte Sorge, dass dem Vater im Krieg etwas zustößt. Der Sicherheitsmann hilft bei der Bürgerwehr von Kiew. Jeden Morgen fragt auch Helen als erstes, wie es Dmitri geht, den sie nur aus dem Videochat kennt.