Essen. Seit Tarkan Yüzbasioglu mit Freunden von Essen zu einer Hilfsaktion nach Lwiw aufbrach, wird sein Imbiss von Hilfsbereitschaft fast überrollt.
„Ich bitte um Nachsicht, dass ich seit zehn Tagen keine Tagesgerichte mehr posten kann“, entschuldigt sich Tarkan Yüzbasioglu (44). Aber seine Pommesbude ist zum Lagezentrum avanciert, zum Spendenbüro, zum Fixpunkt einer Hilfsorganisation beachtlicher Größe, die schneller wächst, als sie eine Struktur finden kann. Vor einer Woche sind von der „Imbisserie Melandi’s“ in Essen-Haarzopf aus 13 Bullis und ein Laster mit Hilfsgütern in die Ukraine gestartet und haben Geflüchtete mit zurückgebracht. Der nächste Transport ist schon jetzt doppelt so groß.
Die Kämpfe um Lwiw haben an dem Tag begonnen, als ihr dort wart. Und nun wollt ihr wieder ins Kriegsgebiet fahren?
Tarkan: Drei, vier Fahrer haben zuerst gesagt: Nee, das machen wir nicht noch mal. Aber uns allen gehen die Bilder nicht aus dem Kopf, ich träume seit Tagen davon, wie die Kinder sich am Grenzübergang in Polen auf die Trinkpäckchen gestürzt haben, die waren halb verdurstet. Ich träume auch von einem Mädchen mit ihrem Hund und einem Koffer, allein an der Grenze. Sie hat die ganze Zeit nach ihrer Mutter geschrien. Es gibt ein Foto davon, aus der Ferne. Das zeige ich meiner 15-Jährigen Tochter: Stell dir vor, du würdest da zwanzig Stunden lang stehen. Oder du würdest auf einmal in Rumänien landen. Aysa hat dann einfach nur gesagt: Papa, dann geh, dann mach es. Und was uns wirklich alle fertiggemacht hat, ist, dass offenbar viele Leute Angst haben, nach Deutschland zu kommen, so viel Angst, dass sie lieber im Kriegsgebiet im Bunker bleiben.
Sie haben Angst vor der Flucht.
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Ja, es gibt eine extreme Angst vor Menschenhandel. Wir haben die Zuhälter und Schlepperinnen ja gesehen an der polnischen Grenze, seriös, mit Schildern in der Hand. Wir haben auch gesehen, dass der Schwarzmarkt mit Spenden floriert, von zehn Spenden-Lkws standen zwei hinterm Zaun, wo Leute was weggepackt haben. Wollten wir fotografieren, da kamen direkt welche mit Gewehr, nee, Handy aus ... Mit einem alten Aserbaidschan-Ukrainer konnte ich mich auf der Fahrt auf türkisch unterhalten. Ich habe ihm gesagt: Ihr seid in Essen sicher, ihr werdet alle privat untergebracht. Da hat er direkt gefragt: Aber nicht gemeinsam mit anderen, unsere Frauen … Nein. Ich hab hier mein Restaurant, ich hab ihm Bilder gezeigt. Jetzt, ein paar Tage danach, hat er mich angerufen: Danke, mein Freund, Gott soll dich beschützen, alles ist so, wie du gesagt hast. Ich habe mit der Ukraine telefoniert und gesagt, dass meine Enkel, neun, zwölf und vierzehn kommen dürfen. Sie sind hinter Kiew und wollen sich nach Lemberg durchkämpfen. Könnt ihr sie abholen?
Und nun gibt es eine Welle der Hilfsbereitschaft.
Ich hatte durch Corona ein bisschen meinen Glauben an die Leute verloren, alle kalt … aber plötzlich rufen wildfremde Menschen aus ganz Deutschland an. Viele Ältere sind darunter, mit Kriegserinnerungen und einem Zittern in der Stimme: Ja, sind sie der Tarkan? Sie kennen mich nicht – so fängt es immer an. Ich habe in der WAZ gelesen, was Sie und ihre Freunde Tolles zustande gebracht haben ... Wir haben am Dienstag das Spendenkonto eröffnet, um 16 Uhr. Jetzt haben wir über zehntausend Euro darauf. Und die Leute geben Geld einfach bei mir in der Pommesbude ab, 3200 Euro alleine gestern. Ich hatte gestern auch einen Psychiater hier, ein Russe, die haben so geheult, der Mann und die Frau, die haben uns Waren für achttausend Euro gebracht. Schwestern haben ihre Oberärzte gefragt, und in Krankenhäusern haben sie die Keller leer gemacht von OP-Geschirr. Viele Praxen haben gespendet. Viele neue Sachen sind dabei, Spritzen, Kanülen, Desinfektionsmittel. Unsere Lager sind voll mit Kindernahrung, Konserven, Verbandsmaterial
Ihr habt Lager?
Ja, wir müssen die Pommesbude täglich leeren. Einer wird morgen drei Palletten mit Desinfektionsmittel und Zahnpasta liefern. Jasmin und Matthias Bähre, die ja alles ins Rollen brachten, haben ihren Fliesenlegerbetrieb gerade zu, glaube ich, deren Hof ist ja auch schon voll. Ich glaube, in Wülfrath haben wir jetzt auch ein Lager und bei verschiedenen Firmen. Es geht ja auch um Möbel. Uns sind Wohnungen angeboten worden für bestimmt 200 Menschen, von Privatleuten und von sozialen Wohnungsbaugesellschaften, Wahnsinn. Reinigungen und Schneidereien haben Spendendosen für uns hingestellt, jeder Selbstständige sammelt, heute kam die Klasse 9d des Gymnasiums Heißen und hat 150 Euro gebracht. Dann hab ich zwei Kinder hier gehabt, sieben und elf Jahre alt, hier Tarkan, neun Euro, tu da rein. Leute drucken T-Shirts „Haarzopf mit Herz“ und spenden den Erlös.
Was macht ihr mit dem Geld?
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Wir dachten zuerst, wir müssten den Sprit davon bezahlen. Bei der ersten Tour haben die Fahrer das Benzin zunächst aus der eigenen Tasche bezahlt, da sind auch einfache Gabelstaplerfahrer dazwischen, aber ein Bulli hin und zurück kostet ungefähr 500 Euro. Zum Glück haben uns die Autovermieter dann das Benzingeld gespendet, wirklich alle Firmen. Wir können also zum Beispiel Konserven kaufen für 8000 Euro. Mein Großhändler gibt uns dreißig Prozent Rabatt und packt sogar noch zweitausend Euro drauf. Die Lebensmittel werden für die 20.000 Menschen, die an der Grenze stehen benötigt. Wir haben es ja gesehen, die haben Gasbrenner oder machen Feuer in Ölfässern, und darauf machen sie ihre Dosensuppe warm. Sie schlafen im Stehen, essen im Stehen und warten, bis sie rüberkommen.
Mit wie vielen Wagen wollt ihr fahren?
Stand jetzt haben wir 22 Bullis, die fast voll sind. Deutsch-kroatische Freunde mit einem Reiseunternehmen haben einen Reisebus mit zwei Fahrern gestellt, der wird an der polnischen Grenze warten. Und ein ambulanter Dienst schickt zwei Krankenwagen mit, weil wir auf der Rückfahrt ein Kind hatten, das krank war und mehrere andere haben sich mehrfach übergeben. Jetzt brauchen wir noch ein paar Kindersitze, damit die Frauen ihre Babys endlich mal ablegen können. Wir haben ja gesehen, wie sie drei, vier Tage mit den Kindern durch die Gegend laufen, und nachts übernachten sie in Verstecken.
Wie sorgt ihr für eure Sicherheit?
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Auf der ersten Reise lief alles über persönliche Kontakte, das war auch alles ganz toll. Aber diesmal arbeiten wir mit dem Roten Kreuz zusammen und fahren auch mit denen zusammen rein. Wir werden nicht mehr denselben Grenzübergang benutzen, der ist wohl zu gefährlich geworden. Und wir können auch nicht mehr 70 Kilometer ins Landesinnere fahren, sondern nur zwanzig Kilometer. Falls es dort auch zu gefährlich sein sollte, sollen wir vor der Grenze warten, bis das Rote Kreuz einen neuen Korridor frei gibt.
Wie organisiert ihr das alles in so kurzer Zeit?
Es ist ein bisschen zu viel Tarkan in der Öffentlichkeit. Aber allein was in der Fahrergruppe organisiert wird, wie viele Nachrichten da hin und her gehen. Nach Feierabend holen die Möbel ab und bereiten Wohnungen für die Flüchtlinge vor. Alles Leute mit einem Riesenherz … Vieles hat sich so ergeben, als wir uns noch mal hier in der Pommesbude getroffen haben, der eine kennt jemanden beim LVR, jene bei der AOK. Einige Fahrer hatten keinen aktuellen Reisepass mehr, normalerweise hätten sie drei Monate warten müssen, aber durch Beziehungen hat es nur zwei Tage gedauert. Wahnsinn, alle, alle, alle ziehen an einem Strang. Was von diesen zwei Dörfern, Haarzopf und Heimaterde, auf die Beine gestellt worden ist … aber eigentlich ist jetzt schon das halbe Ruhrgebiet beteiligt.