Bochum. Geflüchtete leiden oft unter Schlaflosigkeit, Alpträumen oder Angstzuständen. Wann ist der Punkt gekommen, professionelle Hilfe zu suchen?
Wer aus der Ukraine flüchtet, hat oft nichts mehr, aber reist mit schwerem emotionalen Gepäck. Wann ist es Trauer, wann Trauma? Vor dieser Frage stehen auch Helfer und Gastfamilien, wenn die Gäste sich zurückziehen, vor Alpträumen kaum noch schlafen können, unter Angstzuständen leiden. Zugleich finden sich die Ukrainerinnen in einer etwas anderen Situation als andere Geflüchtete.
Fachleute wie Eike Leidgens gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent aller Geflüchteten im klinischen Sinne unter den Folgen eines Traumas leiden. Allerdings sprechen zwei Faktoren im Fall der Ukraine dafür, „dass wir unter dieser Schwelle bleiben werden“, sagt der Psychologe der Medizinischen Flüchtlingshilfe in Bochum, die als eine von drei deutschen Einrichtungen auch international als Therapiezentrum für Folterüberlebende anerkannt ist. Die meisten Klienten wurden auf der Flucht erneut traumatisiert, in Libyen gefoltert, auf der Landroute vergewaltigt, auf dem Mittelmeer ausgesetzt. Und in Deutschland angekommen steht ihnen oft jahrelange Unsicherheit und Abschottung vom Arbeitsmarkt und anderer Teilhabe bevor.
Je länger der Krieg dauert ...
„Die Flucht der Ukrainerinnen ist kürzer“, sagt Leidgens. Und sie haben die freie Wohnortwahl, können arbeiten und müssen nicht um ihr Aufenthaltsrecht fürchten. Damit fallen viele Stressfaktoren weg, die Trauma verlängern oder verschärfen. „Die ersten kamen noch mit dem Auto und hatten oft keine direkten Gewalterfahrungen gemacht. Aber mit zunehmender Dauer des Krieges werden wir mehr Menschen bei uns sehen, die Vergewaltigung oder Folter oder andere Kriegsgewalt erfahren haben. Die zweimal geflohen sind.“ Vielleicht schon 2014 aus dem Donbass und nun erneut aus Kiew.
Bislang sind erst vereinzelte Anfragen nach Therapie gekommen, meist über ehrenamtliche Helfer. Aber Leidgens ist sicher, dass es bald massiv losgeht. „Wir versuchen jetzt aufzustocken, sind aber auf Spenden und Projektgelder angewiesen.“ Ebenso schätzt Prof. Peer Abilgaard die Lage ein. Der Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit an den Evangelischen Kliniken Gelsenkirchen sagt: „Viele Geflüchtete sind noch in der Akutphase, wie im Notstrommodus unterwegs.“ Es brauche eine gewisse Rahmensicherheit, bis an eine Therapie zu denken sei. Aber die Helfer der Diakonie werden nun geschult, um Traumafolgestörungen besser erkennen und Angebote machen zu können.
Was ist eine Traumafolgestörung?
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Wie äußert sich eine „Traumafolgestörung“? Unter diesem Oberbegriff werden ganz verschiedene psychische Reaktionen zusammengefasst: Von Depressionen und Identitätsstörungen über Borderline und Angstzustände hin zu Asthma, Ekzemen und Herzinfarkten. Ein schwerer Fall kann so aussehen wie der eines syrischen Klienten von Leidgens, der Folter im Gefängnis überlebte. „Er ist seit fünf Jahren in Deutschland und war nur sehr eingeschränkt in der Lage, die Sprache zu erlernen. Denn wenn er mehr als zwei Stunden schläft, war das eine gute Nacht für ihn. Er wacht mit Alpträumen auf und denkt die anderen 22 Stunden des Tages darüber nach, was ihm widerfahren ist. Das erste Jahr der Therapie haben wir eigentlich nur besprochen, ob es Gründe für ihn gibt weiterzuleben.“
Was kann ein Therapeut überhaupt erreichen? „Trennung, Trauer und Sorge sind fortlaufende Belastungen, die sich nicht nehmen lassen“, sagt Leidgens. Zunächst arbeitet er mit seinen Klienten an der „äußeren Stabilisierung“. „Wie kann ich nach einem Alptraum besser wieder einschlafen? Was sind Interessen, die ich aufgreifen kann? Wie schafft man einen Alltag?“ Manche versuchen dies, indem sie anderen helfen. „Wir haben auch schon Anfragen von Geflüchteten, die sich engagieren wollen.“ Zum Beispiel als Übersetzer.
Den Kleiderschrank sortieren
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„Fast alle wollen das Erlebte unbedingt vergessen und wegschließen, können es aber nicht, weil es immer wieder hervorbricht, als sei es gerade erst passiert“, sagt Leidgens. „In der Therapie kann es möglich sein, zusammen hinzuschauen.“ Man vergleicht es oft mit dem Ordnen eines Kleiderschranks.In traumatischen Situationen werden Erinnerungen so wahllos abgelegt, als würde man seinen Schrank vollstopfen, bis nicht einmal mehr die Tür schließt. Berührt man sie nur leicht, purzelt alles heraus. Mit dem Therapeuten holt man die einzelnen Stücke hervor und legt sie dann ordentlich gefaltet an ihren Platz.
So hat es funktioniert bei dem Klienten aus Sri Lanka, ebenfalls mit Foltererfahrungen. „Er kann nun besser schlafen, ist konzentrierter, sein Gedächtnis funktioniert besser, er braucht weniger Medikamente. Er hat Arbeit als Lagerarbeiter gefunden, der gelernte Zweiradmechaniker will aber seine alte Leidenschaft für Fahrräder und Motorräder wiederbeleben. Er hat Leidgens gesagt: „Ich habe durch die Therapie sehen gelernt, dass es auch Menschlichkeit gibt. Nun kann ich mich auch wieder fühlen wie ein Mensch.“
Welche Rolle spielt Gerechtigkeit?
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Für viele Klienten sei es enorm wichtig, dass „irgendeine Form von Gerechtigkeit möglich ist“, erklärt Leidgens. Das Urteil gegen einen syrischen Gefängnisleiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Koblenz „ist für meinen Klienten eine klare Entlastung gewesen. Man hat ihm die Erleichterung angesehen. Er hat den Prozess einen Stern in der Dunkelheit genannt.“ Auch Solidarität hilft gewiss, „ist aber ein zweischneidiges Schwert, denn andere Klienten fühlen sich ungerecht behandelt“. Auch Fachleute wie Eike Leidgens schauen „verblüfft darauf, was plötzlich möglich ist im Umgang mit Geflüchteten“. Anderen Betroffenen führt es umso deutlicher ein Zweiklassensystem vor Augen – und verstärkt das Gefühl von Ausgrenzung und Traumafolgestörungen.
In Gastfamilien aufgenommen zu werden „tut Geflüchteten auf jeden Fall gut. Soziale Unterstützung und das Gefühl von Sicherheit sind enorm wertvoll.“ Den Gastfamilien empfiehlt Leidgens „Mitmenschlichkeit, Respekt und Umgang auf Augenhöhe.“ Allerdings ist das (temporäre) Zusammenleben oft nicht ohne Probleme. Ist nicht genug Platz da, sich zurückzuziehen, kann das zu Anspannung führen. Einige Geflüchtete sind dankbar für Angebote, andere empfinden sie als Bedrängung und wünschen sich nur Ruhe.
Städte bereiten sich auf Probleme vor
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Die Stadt Dortmund etwa erklärt auf Anfrage: „Im Alltag und mit zunehmender Aufenthaltsdauer stellen sich die Wohnbereiche oft als zu klein heraus, so dass sich die Flüchtlinge nach einer Wohnung umschauen. Eine Rolle spielt hier auch die für alle Beteiligten eingeschränkte Privatsphäre.“ Dann wird versucht, den Geflüchteten eine Wohnung zu vermitteln. „Für die Gastfamilien können der reduzierte eigene Wohnraum und auch die erhöhten Kosten eine Herausforderung sein. In diesem Zusammenhang erreichen die Stadt Anfragen auf finanzielle Unterstützung.“ Zurzeit sind mehr als fünf Sechstel der rund 5300 registrierten Ukrainer privat untergebracht. In Essen sind es zwei Drittel (gesamt 4300). Auch hier bereitet man sich darauf vor, dass privat Untergekommene zunehmend von der Stadt untergebracht werden müssen, „um Obdachlosigkeit zu verhindern“.
„Wir erleben auch oft, dass Unterstützende eigene Erwartungen haben“, sagt Leidgens: „Die Gäste könnten das Haus beleben, das Zusammenleben könnte nett sein, sie könnten Dankbarkeit zeigen. Solche Erwartungen können auch Belastungen sein.“ Wichtig sei es, nicht enttäuscht zu sein, wenn Hilfsangebote nicht angenommen würden.
Die Trauer und Sorge um Angehörige, Verlust, Angst, Schockzustände, Wut, Schuldgefühle, extreme Erschöpfung, akute Stresszustände – das alles ist nicht immer gleich als behandlungswürdige „Traumafolgestörung“ einzustufen, erklärt Leidgens, und kann eine angemessene Reaktion sein auf das Erlebte. Für Laien wird es schwer zu sagen, was noch Trauer ist, was schon Trauma. Schon, weil viele Gäste nicht über das Erlebte sprechen wollen oder können. Und für äußere Anzeichen wie Schlaflosigkeit gibt es viele Gründe. Leidgens rät: „Leiden die Personen sehr stark? Kommunizieren sie das? Wollen sie Hilfe? Wenn das der Fall ist, kann man ein Angebot machen.“
>> Info: Hier gibt es Unterstützung
Wer psychologische Unterstützung für Geflüchtete sucht, kann sich an die Psychosozialen Zentren wenden, ihre Hotlines vermitteln auch an Psychotherapeuten, Psychiater und die Ausbildungsambulanzen der Unis, die sich ehrenamtlich engagieren. Zwar haben ukrainische Geflüchtete nach Registrierung und Anmeldung grundsätzlich Anspruch auf Regelleistungen, aber schon mit der Sprache wird es schwierig. Die Krankenkassen übernehmen in der Regel keine Dolmetscherkosten. Auch eine entsprechende Diagnose wäre Voraussetzung. Dabei, erklärt Leidgens, „rechtfertigt auch eine schwierige Trauer vielleicht schon fachliche Unterstützung“.