Essen. Zerrissene Familie, zerrissene Identität: Als Russin hilft die Essener Künstlerin Morin Smolé Ukrainern bei der Flucht – ebenso wie Russen.
Eine Stunde hatten Ada und Ellen mit ihren Töchern Amelia (19) und Rimma (18) Zeit zu packen, als die Entscheidung fiel, von Kiew nach Essen zu fliehen. Es ging nur ein Zug an diesem Tag und die Situation war unerträglich geworden. Die vier Frauen zucken zusammen, wenn sie Flugzeuge hören oder Polizeisirenen. „Dokumente, Wasser, Zahnbürste, zwei Jeans, zwei T-Shirts, das eine Paar Schuhe“, sagt Amelia, die Management studiert. Viel mehr haben sie nicht mitgebracht in ihren Tagesrucksäcken. Und nur so viel Geld, wie die Automaten freigaben, sagt die Psychologin Ellen. Es war eng in den Zügen, sie konnten tagelang nicht sitzen, nicht schlafen. „Nun liegen wir wach in der Nacht mit offenen Augen, denken an die Eltern und die Schwester in der Ukraine, und wissen nicht, wie es weiter geht.“
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Eine Freundin aus Essen hatte die vier zur Flucht überredet, sonst wären sie wohl geblieben. Eine russische Freundin. „Aber warum soll das etwas besonderes sein?“, fragt Morin Smolé. „Gerade weil ich Russin bin, versuche ich die Leute rauszuholen. So viele wie ich kann.“ Nicht nur aus der Ukraine, auch aus Russland. In normalen Zeiten ist die 51-Jährige Sängerin und komponiert Chansons in drei Sprachen, nun schläft auch sie kaum noch, macht sich Sorgen, um Freunde und Familie in beiden Ländern. Und darum, dass die Stimmung gegen Russen in Deutschland in Gewalt umschlagen könnte.
Wie fühlt es sich gerade an, als Russin in Deutschland zu leben?
Smolé: Für die Ukrainer bin ich eine Russin, für die Russen bin ich eine Verräterin, und für die Deutschen bin ich … keine Ahnung mehr. Es ist ja auch nicht einfach, ganz viele Ukrainer sind russischsprachig. Meine Freundin Najada spricht ukrainisch eher schlecht und schreibt es gar nicht, sie hat zwei Nationalitäten, ihr Papa war Russe ... Ich schäme mich sehr für diesen Krieg.
Aber Sie persönlich müssen sich doch nicht verantwortlich fühlen.
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Ich bin Russin, und bin stolz auf dieses größte, schönste Land der Welt. Wenn es möglich wäre, würde ich nach Moskau gehen, um etwas zu verändern. Dafür würde ich mein Leben geben. Aber nun telefoniere ich stattdessen jeden Tag 1000-mal mit Moskau und der Ukraine. Ich versuche, so viele Leute wie möglich herauszuholen und bin gerade dabei drei weiteren Ukrainerinnen zu helfen. Ich versuche aber auch meiner Familie und meinen Freunden in Russland klarzumachen, dass der Eiserne Vorhang wieder fällt. Für lange Zeit. Ein Ticket in den Westen kostet auf dem Schwarzmarkt in Moskau mittlerweile 4000 Euro. Ich bin bereit es zu zahlen, wenn ich einen Menschen dort rausholen kann, egal wen. Die Tochter meiner Freundin ist homosexuell, sie lernt schon deutsch. Es ist möglich, dass sie schon auf einer Todesliste steht. Gespräche werden abgehört, selbst wenn einer das Wort Kriegsangst fallen lässt, muss er Angst haben, einkassiert zu werden.
Ihrer Studienfreundin Ada haben Sie ja schon geholfen.
Wir haben uns seit 30 Jahren nicht gesehen, aber ich hatte den Kontakt schon eine ganze Weile vor dem Krieg wieder aufgenommen. Ich habe es auf uns zukommen sehen. Wissen Sie, auch damals, als wir in Moskau studiert haben, gab es wenig zu essen, oder es war zu teuer. Wir aßen also blanke Nudeln und schliefen vier Jahre aneinandergekuschelt im Winter, draußen waren es minus vierzig Grad, und die Heizung funktionierte nicht. Und nun, als meine Freundin Ada ankam, wog sie wieder nur 43 Kilo.
Sie haben den Krieg kommen sehen, seit Putin 2014 in die Krim einmarschierte?
Nein, es hat schon eher angefangen. Putin arbeitet daran, die Gesellschaft zu verdrehen, seit er an der Macht ist. Da wurden an der Promenade in Moskau Panzer ausgestellt. Dann spielten die Kinder darauf. Dann trugen sie plötzlich Uniform. Ja, Militäruniformen für Kinder sind der letzte Schrei seit einigen Jahren. Das suggeriert: Wir sind immer bereit. Wofür? Zu Sterben. Wofür? Für Putin und seine Jachten.
Sind sie darum fortgegangen vor 30 Jahren?
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Ja, und der Liebe wegen. 5000 Menschen standen damals vor der deutschen Botschaft in Moskau. Ich bin einfach an ihnen vorbei zur Tür gegangen, sie hätten mich wohl am liebsten zerrissen. Aber der Pförtner fragte mich: „Was willst du?“ – Ich sagte: „Ich will deutsch lernen“. Und warum auch immer, er ließ mich rein.“
Wie geht es ihrer Familie?
Der Riss geht durch meine Familie hindurch. Meine Mutter war kritisch eingestellt, sie ist in Berlin gestorben und begraben, wo ich lange gelebt habe. Aber mein Vater ist pro Putin. Mit ihm zu reden, obwohl er mich liebt, ist seit Kriegsbeginn unmöglich. Obwohl er noch vor drei Monaten hier war, in Essen-Haarzopf. Ich weiß, dass ich nun nicht mehr nach Moskau fliegen kann, und mein Vater wird sein Land niemals verlassen. Ich glaube, ich habe Papa das letzte Mal gesehen, als ich ihn zum Flughafen brachte.
>> Info: Straftaten gegen Russen
Das Landeskriminalamt hat im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine bis Anfang dieser Woche 49 Straftaten registriert, von Volksverhetzung über Sachbeschädigung bis hin zu Erpressung und Raub. In einem Drittel der Fälle handelte es sich bei den Opfern um Russen, in zwei Fällen wurden russische Konsulate beschädigt, bei einem osteuropäischen Supermarkt in Oberhausen wurden unter anderem die Scheiben eingeworfen. Achtmal seien Ukrainer Opfer von Straftaten geworden. In NRW leben laut Statistischem Landesamt rund 54.000 Russen und 29.000 Ukrainer.
Auch die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sieht „besorgniserregende Tendenzen“, so der Vorsitzende Dietmar Schulmeister. „Zum Beispiel sind Kinder, die vermeintlich russisch sind, von Lehrern aufgerufen worden, sich zu erklären, ob sie pro oder contra Putin sind.“ Der Verband will auf der Website ich-bin-dagegen-com Betroffenen eine Anlaufstelle bieten und Hilfe leisten. „Wir empfehlen etwa die Antidiskriminierungsstellen der Städte oder Schulpsychologen.“ Es gebe bisher vor allem Veröffentlichungen von solchen Fällen durch das russische Konsulat oder AfD-nahe Seiten. „Dieser Propaganda wollen wir etwas entgegensetzen. Wir engagieren uns auch stark in der Hilfe für ukrainische Flüchtlinge. Wir wissen aufgrund unserer Geschichte genau, was Flucht heißt.“
Auch Schulmeister erwartet eine Flüchtlingswelle aus Russland. „Ich empfehle auch allen meinen Freunden, zu fliehen. Die Polizei kontrolliert jetzt in den Straßen Handys und wer die falschen Telegrammkanäle abonniert hat, wird abgeführt. Womöglich wird auch das Gesetz, das 15 Jahre Haft für die Teilnahme an Demonstrationen vorsieht rückwirken angewendet. Auch das hatten wir schon mit dem Extremistengesetz.“
Im Gespräch mit dieser Zeitung beklagte unter anderem eine russische Pflegerin aus Duisburg tägliche Anfeindungen. Unbekannte sollen ihr Auto zerkratzt haben, weil sie zuvor russische Musik hörte. „Mach die Russenmusik aus und verpiss dich in dein Land“, habe auf einem Zettel an der Windschutzscheibe gestanden. In NRW leben nach Angaben des Statistischen Landesamtes rund 54.000 Russen und 29.000 Ukrainer.