Essen. Der neue Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung befasst sich auch mit Sexrobotern: Fluch oder Segen für Einsame?
Von Polarforschern weiß man, was Isolation und Reizarmut bewirken: Beides lässt, stellten wissenschaftliche Studien fest, den Hippocampus verkümmern. Er schrumpft, nachweisbar. Es ist der Teil des Gehirns, der räumliche Orientierung regelt – und Emotionen. Was eine andere, durchaus vergleichbare Situation, was Haft mit Hirn macht, hat noch niemand untersucht: Prof. Johannes Fuß, der neue Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung am LVR-Klinikum Essen ist der erste. Und das ist nur einer seiner außergewöhnlichen Forschungsschwerpunkte.
Auch interessant
Vor wenigen Wochen, noch an seinem alten Arbeitsplatz, dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, hat der 37 Jahre alte Psychiater und Psychotherapeut mit der Längsschnittstudie begonnen. Die Justizbehörden der Hansestadt liefern ihm dazu verurteilte Straftäter auch „gefesselt, direkt aus der Haft“ ins MRT (Kernspin), freiwillige Probanden allesamt. Die Deutsche Forschungsgesellschaft fördert das Projekt auf drei Jahre. Und das ist gut so, glaubt Fuß, denn: „Zu den Effekten von Haft gibt es nichts. Was absurd ist, weil weltweit zehn Millionen Menschen in Haft sind.“ Allein in Deutschland seien es 60.000.
Behandlung psychisch Kranker in normalen Gefängnissen – „ein medizinischer Skandal“
Rund fünf bis zehn Prozent der in Deutschland Inhaftierten, ergänzt Fuß, seien psychisch krank, litten unter Wahnvorstellungen, schlimmen Psychosen. Angemessene Therapie gebe es nur im Maßregelvollzug, wie diese Menschen in normalen Gefängnissen behandelt würden, nennt er „Unrecht“, einen „medizinischen Skandal“ – ein weiteres Thema, dem sei Augenmerk gilt. Mit der Habilitation, erzählt er in einem Rüttenscheider Café (sein Institut ist noch „im Umzug“), kam 2018 das Angebot, die Gefängnispsychiatrie in Hamburg zu betreuen, er nahm es an. „Es wollte auch sonst keiner machen“, lacht er. Doch ihm gefiel die Aufgabe? „Es war hart“, sagt der Mediziner. Abends sei er oft „angespannt“ heim gegangen. Aber er mag nicht gern darüber sprechen; er will Patienten, die ihn auch schon mal anspucken oder bedrohen, nicht „schlechtreden“.
„In den Gefängnissen sehen Sie so viel Elend, so schwer kranke Menschen, wie man sie in der Allgemeinpsychiatrie nicht mehr sieht“ – arme, alte, einsame Frauen und Männer darunter, die vielleicht beim Schwarzfahren erwischt wurden, weil ihnen das Geld für den Bus fehlt; die eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten mussten, weil sie die Bußgelder fürs Schwarzfahren nicht zahlen konnten – und deren Probleme im Gefängnis dann richtig „aufblühen“: „Sie hören Stimmen, fühlen sich verfolgt, oft auch bedroht von Vollzugsbeamten, die doch nur helfen wollen.“ Letzteren macht er keinen Vorwurf („alle sind mit der Situation überfordert“), dem „System“ schon.
Haft soll Resozialisierung erleichtern, nicht erschweren
Er stellt es sogar infrage. Die „schlimmen Zustände“ in den Justizvollzugsanstalten gesehen zu haben, empfindet er als „persönlichen, politischen Auftrag“, sie zu ändern. Psychisch erkrankte Gefängnisinsassen sich selbst zu überlassen, widerspreche allem, „was wir wissen, wie man Kranke behandelt“. Zudem gehe es in der Haft doch vor allem um Resozialisierung. „Muss man“, fragt Fuß, „Haft dann nicht so gestalten, dass die Gehirne der Inhaftierten dort so verändert werden, dass es ihnen anschließend leichter fällt als zuvor, nicht wieder straffällig zu werden?“ Er will das Handwerkszeug, die Methoden dafür liefern.
Und er setzt dabei auch auf Virtual Reality, will an seiner Essener Klinik dafür ein mobiles, neurowissenschaftliches Labor aufbauen, in dem er Häftlinge (und andere Versuchspersonen natürlich auch) in virtuelle Szenarien versetzt, in denen Entscheidungen gefragt sind. „Dann messen wir mit Lasertrackern, wie sie sich verhalten, und versuchen das neurobiologisch zu verstehen.“ Langfristig, hofft Fuß, könnten so auch die Prognosen über künftiges, (verbrecherisches) Verhalten verbessert werden. Die bisher üblichen, abgefragten „Selbstauskünfte“ seien wenig zuverlässig.
Zweiter Forschungsschwerpunkt Sexroboter: Fluch oder Segen für Einsame?
Simulierte Wirklichkeiten spielen auch bei Fuß’ zweitem „Standbein“, der experimentellen Sexualforschung, eine entscheidende Rolle. Aktuell beispielsweise befasst er sich mit der „Diagnose Sexsucht“ sowie menschenähnlichen Sexrobotern – hochtechnologischen Puppen mit warmer „Haut“, mit denen mancher wie mit einem echten Partner „zusammenlebt“. Sind sie Fluch oder Segen für Einsame? Ist jemand wahnsinnig oder nur besonders fantasievoll, der ernsthaft erklärt, seine Gummipuppe sei so eifersüchtig? Wie verändert ein solcher Sexroboter das Verhältnis zu, den Blick auf leibhaftige Gegenüber? Solche Fragen interessieren Fuß. Das Thema sei spannend, die Simulation von Intimität treibe die Menschen doch seit Jahrtausenden um. Und es polarisiere. Die einen sagten: „Ist doch nur ein Haufen Latex“, die anderen wollten Sexroboter verbieten, sie machten Frauen zur Ware, „fütterten“ den Markt der Prostitution, argumentieren sie. Fuß denkt: Man muss darüber gar nicht streiten, man kann es doch herausfinden. Er sieht das als seinen Beitrag zur Versachlichung einer sehr hitzig geführten, schambehafteten Debatte – und als eine sehr reizvolle, „schöngeistige“ Aufgabe.
Auch interessant
Andere dagegen finden „etwas schräg“, womit der Wissenschaftler sich befasst. Tatsächlich wollte Fuß lange Neurochirurg werden. Doch dann nahm er während eines Afrika-Aufenthalts das falsche Malaria-Prophylaxe-Mittel: Es löste heftige Halluzinationen bei ihm aus. Seither ahnt er, wie wahr Wahn sich anfühlt, wie groß die Angst vor objektiv nicht existierenden, aber subjektiv als existenziell empfundenen Bedrohungen sein kann, wie man getrieben sein kann von Dingen, die man selbst nicht erklären kann. „Damals, in Tansania“, sagt Fuß, „ ist wohl der Grundstein für meine Faszination für Psychosen gelegt worden.“
Neues „Seminar für Sexualanamnese“ für angehende Mediziner
Seine Entscheidung für die Psychiatrie und seine spätere Schwerpunktsetzung hat er nie bereut. Er liebt die interdisziplinäre Arbeit, dass seine Forschung nicht nur mit Medizin, sondern auch mit Jura, Philosophie, Soziologie und Biologie zu tun hat. Marginalisierte, stigmatisierte Randgruppen wie sexuelle und geschlechtliche Minderheiten, aber auch Menschen die Straftaten begangen haben und in Haft sind, hätten zudem „keine Lobby“: „Es fällt leicht zu sagen: sperrt die einfach weg, bei denen muss man doch nicht gucken, dass es ihnen gut geht.“ Doch er empfindet das als „Entmenschlichung“, und seinen Job als „zutiefst sinnvoll“.
Fuß will auch seine Studenten entsprechend sensibilisieren, regte ein neues „Seminar für Sexualanamnese“ an: Wie man als Arzt mit Patienten über Sexualität reden – „da liegt vieles noch im Argen, auch Ärzte sind da gehemmt, weil ihnen das Handwerkszeug fehlt“. Auch das will er liefern, auch ein solcher Impuls sei Aufgabe seines Instituts.
Doch noch ist Fuß nicht wirklich angekommen im Ruhrgebiet, noch pendelt er von Hamburg aus ins Revier, lebt in Airbnb-Unterkünften und Hotels. Doch so manche schöne Ecke in Essen hat der Mann, der im badischen Müllheim geboren wurde, bereits entdeckt. Auch die Menschen hier, hat er festgestellt, gefallen ihm: „Wenig Schnösel, viele normale.“
>>> INFO: Der Vorgänger
Johannes Fuß tritt am Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung die Nachfolge von Norbert Leygraf an – und damit in „sehr große Fußstapfen“, wie er sagt.
Leygraf gilt als einer der bekanntesten forensischen Psychiater in Deutschland, er war unter anderem Gutachter im Prozess gegen den Kindesmörder Magnus Gäfgen.