Essen. . Seit Jahrzehnten begutachtet Norbert Leygraf für die Justiz brutale Straftäter. Eine Kriminalgeschichte Deutschlands könnte er schreiben.
Das Verbrechen ist sein Alltag, sein Beruf. Im Auftrag der Gerichte begutachtet Norbert Leygraf seit 27 Jahren Verbrecher, versucht die Gefahr einzuschätzen, die von ihnen ausgeht. Und geht immer das Risiko ein, in der Öffentlichkeit zerrissen zu werden, wenn er mit einer Prognose falsch gelegen hat. Doch das war selten. In all den Jahren hat sich der Leiter des am Essener Uni-Klinikum angesiedelten Institutes für forensische Psychiatrie den Ruf eines renommierten Sachverständigen erworben, Gutachter-Papst wird der 65 Jahre alte Professor und Doktor manchmal genannt. Im September geht er in den Ruhestand, will dennoch weiterhin die Justiz beraten.
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Eine Kriminalgeschichte Deutschlands könnte er schreiben. Die Psyche vieler Gewalttäter erforschte er. Etwa die des mehrfachen Mädchenmörders Ronny Rieken (1998) aus Oldenburg oder von Magnus Gäfgen (2003), dem Frankfurter Jurastudenten sowie Entführer und Mörder des elf Jahre alten Bankierssohns Jakob von Metzler. Oder die rechts gerichteten Solingen-Attentäter (1995), die nachts feige das Haus der türkischen Familie Genc anzündeten und fünf Menschen umbrachten. Auch den fünffachen Essener Frauenmörder Ulrich Schmidt (1992), zuletzt zahlreiche islamistische Terroristen. Sein Rat ist an vielen Gerichten in der Republik gefragt.
Anschaulich die Psyche der Täter erklärt
Ausgezeichnet hat ihn neben Unabhängigkeit und Fachkunde auch die Anschaulichkeit, wie er den Gerichten die Psyche der Angeklagten mit kleinen Beispielen verdeutlicht. Etwa im Essener Prozess um den Anschlag von deutschen Hooligans auf einen Polizisten bei der Fußball-WM 1998 in Frankreich. Einige Verteidiger hatten die Tat mit Gruppendynamik entschuldigt. Leygraf konterte: „Natürlich gibt es gruppendynamische Entwicklungen. Aber wenn Sie einen BVB-Fan in den Schalker Fanblock stellen, wird aus dem auch kein Schalke-Anhänger.“
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Über die Grenzen seiner Wissenschaft ist er sich bewusst. Bei der forensischen Psychiatrie, die der Analyse psychisch gestörter Straftäter dient, lässt sich nicht alles messen. „Das ist keine Mathematik, wir sind keine exakte Wissenschaft“, hat Leygraf mal gesagt. Es gibt Kriterien, an denen der Gerichtspsychiater sich orientieren müsse. Und in den beiden Fällen einer falschen Prognose, die er zu verantworten hat, hätten die Kriterien gegen sein nicht messbares „Bauchgefühl“ gesprochen. Mit diesem Risiko müsse der Gutachter leben. Nicht nur er: „Auch die Gesellschaft muss ein Restrisiko akzeptieren.“ Denn was wäre die Alternative? Leygraf: „Wenn Sie keinen mehr aus der Psychiatrie entlassen, dann müssen Sie viel Geld für Neubauten ausgeben.“
Täter bleiben länger in der Psychiatrie
Mehr Mut verlangt er von Gutachtern und Gerichten. Leygraf ist kein Träumer, er weiß, dass manche Menschen nicht zu ändern sind: „Natürlich hat die Gesellschaft das Recht, sich vor gefährlichen Straftätern zu schützen, sie wegzusperren.“ Aber genauso wisse man, dass die Rückfallquote bei behandelten psychisch kranken Straftätern gar nicht so hoch sei. Der Druck der Medien und die Sicherheitskampagne sorgten dafür, dass die Täter in der geschlossenen Psychiatrie heute länger drin blieben. Unnötig, so Leygraf: Und er verweist auf Zahlen, dass die Kriminalität in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken sei.
Was er sich wünscht für die Zukunft? Dass der Stellenwert der forensischen Psychiatrie im Wissenschaftsbetrieb höher angesiedelt wird. Er spricht von Punkten in der internen Rangfolge. Doch tatsächlich können die Unikliniken und Landesregierungen mit der Forensik keine Werbung machen, entsprechend ist ihr Stand.
Die Existenz des Institutes ist gesichert
Dazu passt, dass er den Interviewtermin im Essener Institut bei 36 Grad Außentemperatur kurzfristig absagen will: „Wir haben keine Klimaanlage.“ In der nicht direkter Sonnenausstrahlung ausgesetzten Bibliothek findet das Gespräch dann doch statt.
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Der Gang durch die Räume im ehemaligen Schwesternwohnheim des in vielen Teilen neu erbauten Essener Universitätsklinikums versprüht noch den zweifelhaften Charme längst vergangener Jahrzehnte. Dass darin ein deutscher Professor arbeitet, dieser Eindruck drängt sich nicht auf, eher Mitleid für die Mitarbeiter in dieser Umgebung. Immerhin ist die Existenz seines Institutes, das er seit 1991 leitet, auch für die Zukunft gesichert. Das war im internen Konkurrenzkampf nicht immer klar. Jetzt geht er, bleibt der Forensik aber als frei schaffender Gutachter vor allem in NRW weiter erhalten. „Bundesweit will ich aber nur noch in Ausnahmefällen tätig werden“, sagt er.
Bei einem der Mörder auch mal Angst verspürt
Der Umgang mit Straftätern, brutalen Mördern und sadistischen Gewalttätern hat privat eher wenig Auswirkungen auf den Menschen Norbert Leygraf. Auch er hat mal Angst verspürt bei einem besonders brutalen Mörder, mit dem er sich unterhielt.
Und als Ronny Rieken sich trotz der vielen Mädchenmorde völlig kalt zeigte, da hat Leygraf zu Hause „Rotz und Wasser geheult, weil er seine Gefühllosigkeit bei mir abgeladen hat“.
Doch auf das Verhalten gegenüber seinen zwei Töchtern und einem Sohn haben diese Erfahrungen bei dem Münsteraner keine größeren Auswirkungen gehabt. „Ich war so besorgt, wie es andere Väter auch sind. Mehr nicht.“ Und er ist aus seiner beruflichen Erfahrung heraus auch überzeugt, dass Deutschland „ein sehr sicheres Land ist“.
<< INFO: WISSENSCHAFTLICHE TAGUNG ZUM ABSCHIED
Zur Verabschiedung von Norbert Leygraf richtet das Essener Universitätsklinikum eine wissenschaftliche Tagung aus. Das Symposium für den Mediziner findet am 24. September statt.
Vorträge halten neben Leygraf selbst auch mehrere ehemalige Mitarbeiter seines Institutes. Themen sind „Aktuelle Forschungsbereiche der forensischen Psychiatrie“.