Ruhrgebiet. Die Angst vor dem Krieg ist auch im Ruhrgebiet groß: Die Alten erinnern sich, die Jungen fürchten um die Zukunft – und Eltern um ihre Kinder.

Der Krieg macht auch den Menschen im Ruhrgebiet Sorgen und sogar Angst. Denen, die ihn noch kennen, und auch denen, die ihn eben nicht kennen: Jede Generation hat da ihr eigenes Päckchen zu tragen.

Wer den Krieg noch erlebt hat

Viele möchten gar nicht reden, sie können ja nicht einmal hinsehen: „Ich kann doch so schon nicht schlafen“, sagen vor allem alte Frauen. Bei manchen kommen in diesen Tagen nicht einmal diagnostizierte Traumata wieder hoch. „Mit viel Angst“ erlebt in Gelsenkirchen etwa Maria Stenert wieder, „was man hinter sich hat“. Als junges Mädchen wurde die Familie der heute 92-Jährigen ausgebombt, es war der 6. November 1944, „wir hatten nichts mehr, nicht einmal mehr Schuhe“. Sie weiß noch, wie sie rannten, um sich zu retten. Sie sieht noch die Menschen, die morgens zum Bunker eilten „und abends tot auf der Straße lagen“. Die Flammen, der glühende Phosphor – und heute seien „die Waffen ja noch schlimmer geworden“.

Die Nachrichten im Fernsehen können viele ältere Menschen gar nicht ertragen.
Die Nachrichten im Fernsehen können viele ältere Menschen gar nicht ertragen. © Shutterstock/Gorodenkoff/ Screenshot tagesschau | Montage

Davor graut auch einer 86-Jährigen aus Essen. Sie habe, erzählt Tochter Birgit Wagner, „eine Riesensorge, dass sich alles wiederholen werde – nur diesmal noch viel schlimmer, da ja die Waffen furchtbarer geworden sind“. Ihre Mutter ermahnte die Tochter jetzt, rasch einkaufen zu gehen – bevor es keine Lebensmittel mehr gibt. „Sie hat große Angst, wieder einen Krieg mitmachen zu müssen, sie erinnert sich lebhaft.“ An die vielen Tage und Nächte, die sie mit Mutter und Schwester im Bunker verbrachte, „während die Bomben niederprasselten“. Die Flüchtlinge, die „mit nichts ankamen“. Das alles, sagt die Tochter, „erlebt sie wieder und wieder neu.“

In Herdecke hat eine frühere Lehrerin „große Angst“, die Nachrichten liegen ihr schmerzhaft auf der Seele. Von ihren Eltern – der Vater kam spät aus Russland zurück –, sagt die 78-Jährige, habe sie „fürchterliche Sachen gehört“, die Bilder der Nachkriegszeit, von Flüchtlingen und Armut hat sie selbst noch im Kopf. Sie und ihr Mann hätten „ein wunderbares Leben gehabt“, aber nun fürchtet sie sich vor einer Flucht, vor einem Weltkrieg, vor allem aber davor: „Unsere Kinder und Enkelkinder sollten das nicht erleben müssen.“ Was auch Maria Stenert beschäftigt: „In was für einer Welt wachsen sie auf!?“

Wer im Kalten Krieg jung war

Erinnert sich noch an seine Wehrdienstzeit im Kalten Krieg: Jochen Tack aus Essen.
Erinnert sich noch an seine Wehrdienstzeit im Kalten Krieg: Jochen Tack aus Essen. © FUNKE Foto Services | Dominik Göttker

Einer ganzen Generation geht es wie Karin Schweiger aus Bergkamen: aufgewachsen im Kalten Krieg, mit den Geschichten der Eltern, die aus Ostpreußen geflüchtet sind. „Durch das, was sie Eltern im Krieg erlebt haben, wurde ich geprägt“, sagt die 56-Jährige – „und mit einer gewissen Angst davor ausgestattet.“ In diesen Tagen werde sie manchmal geradezu panisch, „weit weg ist anders“. Wie oft hat auch Rainer Baumann von seinem Vater gehört: Er solle sich glücklich schätzen, er habe keinen Krieg in Europa erleben müssen. „Seit letzten Donnerstag bin ich mir da nicht mehr so sicher, das macht mich schon nervös.“

Männer, die im Kalten Krieg ihren Wehrdienst leisteten, erinnern sich ja noch: wie sie amerikanische Artillerie schützen, wie sie „einmal im Monat den Nord-Ostsee-Kanal atomar verseuchen“ mussten – zum Glück nur als Übung. Zu Beginn der 80er-Jahre, erzählt der Essener Jochen Tack, habe er beim Bund noch gelernt: „Der Feind kommt aus dem Osten.“ Er lernte, wie russische Panzer aussehen und wie man sie trifft, er erlebte Atom- und Nato-Probealarme, „das war damals ernst gemeint“. Er nahm es trotzdem mit Humor, „wir haben doch nie gedacht, dass man ernsthaft schießen müsste“. Russland übrigens hieß nicht so. Man sprach von „Rotland“, aber natürlich wusste jeder, was gemeint war.

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Sven Matterne aus Bochum war Berufssoldat und nach dem Jugoslawien-Krieg im Kosovo. Den Krieg hat der 46-Jährige dort zwar nicht mehr erlebt, aber seine Folgen: Kinder, die ihm Stellungen zeigten, aus denen auf sie geschossen worden war. Das ungute Bauchgefühl, durch Straßen zu gehen, an deren Rand Minen lagen, die Angst, in Munitionsgebiete zu kommen. Matterne hält die Lage heute für „gefährlich“ und er ahnt: „Es wird viele zivile Opfer geben, das wird bitterböse!“

Wer Krieg nur aus dem Fernsehen kennt

Als die WAZ ihre Leser fragte, ob sie Angst haben vor dem Krieg, antworteten viele, gerade die jüngeren, nur einem Wort: Ja! Manchmal mit drei As, manchmal in Großbuchstaben. Manchen machen die Nachrichten einfach sprachlos. Kriege kennen die meisten nur aus dem Geschichtsbuch, aus häufig kargen Berichten der Großeltern, aus fernen Ländern. Oder aus Jugoslawien, aber das war kein Angriffskrieg, und viele waren noch zu jung. „So einen nahen Krieg habe ich noch nie erlebt“, sagt eine Studentin aus Bochum. „Direkt an den Türen der EU.“

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Dass der Ukraine-Krieg nach Deutschland schwappen könnte, glaubt Max, 32, aus Bochum, eigentlich nicht, „so durchgedreht, dass er ein Nato-Land angreift, ist Putin nicht“. Aber wer weiß das schon? Dass Russland überhaupt angreifen würde, hat er ja auch nicht gedacht: „Ich habe Sorge, dass ich auch da eines Besseren belehrt werde.“ Und Angst, weil der Mann unberechenbar sei. Könnte es sein, dass er, der Zivildienst geleistet hat, dann als Soldat eingezogen würde? Henning, 35, aus Düsseldorf, spricht von einem „gewissen Sicherheitsgefühl“. Und dennoch: „Alle Probleme, die wir vorher hatten, sind unwichtig geworden.“ Was ihn bedrückt, ist das Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine und auch in Russland: Da würden junge Menschen „für etwas Unsinniges in den Krieg geschickt“. Aus seiner eigenen Wehrdienstzeit kennt Henning noch die Pflichten, den Gehorsam der Soldaten. „Es ist schwer, sich zu wehren.“

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Als Linus, 14, am ersten Kriegsmorgen aufwachte, war es „wie ein Traum“, aber kein schöner: „Ein Krieg zwischen zwei Staaten, mit denen ich aufgewachsen bin...“ Er konnte es nicht glauben, es ist, sagt er – und das sehen auch seine Freunde auf dem Oberhausener Schulhof so – „etwas Neues, das ich noch nie erlebt habe. Keiner konnte sich das vorstellen“. Linus weiß viel über den Kalten Krieg, er interessiert sich für Geschichte und hat viel nachgedacht: „Dieser Krieg ist unnötig und sinnlos.“ Angst um sich selbst hat er nicht, aber um die Menschen in der Ukraine, eine Lehrerin aus dem Land hat er weinen sehen. Es ist ein komisches Gefühl, sagt der 14-Jährige: „Man ist zum ersten Mal bei Geschichte dabei.“

Wer Kinder hat

Eltern sorgen sich besonders um ihre Kinder. Und auch die haben große Angst.
Eltern sorgen sich besonders um ihre Kinder. Und auch die haben große Angst. © dpa | Nicolas Armer

Bei vielen Eltern ist die Angst groß, sie schwanken zwischen den Geschichten der Alten und den Sorgen um die Jungen: „Ich habe wahnsinnige Angst!“, sagt Denise, Mutter von drei Kindern, sie wünscht sich doch so sehr „eine sichere Welt“ für sie. Kati aus Castrop-Rauxel schreibt: „Auch wenn ich im Frieden groß werden durfte, habe ich noch die Erzählungen der Großeltern im Kopf. Ich habe drei Kinder, und Angst vor Eskalation, vor Atomwaffen und einem Weltkrieg.“ Dennis und Marie aus Bottrop haben gerade einen Säugling, kaum ein halbes Jahr alt. Und nun zweifeln die beiden, ob es richtig war, „neues Leben in diese doch so kaputte Welt gesetzt zu haben“. Angst haben sie, wie die Großeltern „Tod, Verzweiflung und ein Europa in Schutt und Asche“ erleben zu müssen.

Jenny aus Duisburg muss ihre 13-jährige Tochter gerade viel trösten – und lässt sie die eigenen Sorgen nicht spüren. „Sie hat große Angst davor, was auf uns zu kommt.“ Jenny hat ihr versprochen, dass die Eltern auf die Kinder aufpassen werden. Eine andere Mutter aus Oberhausen blickt traurig auf ihre Kinder: „Erst Corona und nun der Krieg. Sie kennen eigentlich nur Angst.“

>>ANGST VOR DEM KRIEG. WAS WEITERE LESER SAGEN

„Angst habe ich nicht, aber ein ungutes Gefühl. Man wacht auf, der erste Gedanke ist der dortige Krieg. Der erste Griff geht ans Handy um die Nachrichten zu lesen. Wie wird die Lage bei uns werden, was haben die Kinder und Enkelkinder für eine Zukunft? Der Glaube ist weg, die Hoffnung bleibt️.“ Evelin Klein, Duisburg

„Mir macht es Angst daran zu denken, wie es wäre, wenn es in Europa Krieg gäbe und wir die Waffen gegen Russland erheben müssten. Putin ist stur, er ist nicht anders als Adolf Hitler in der Vergangenheit. Wenn Putin erstmal Erfolg verzeichnet gegen die Ukraine, wer garantiert uns, dass er nicht weiter größenwahnsinnig wird und noch andere Länder angreifen wird? Wenn das erstmal erfolgt, dann haben wir den 3. Weltkrieg und können diesen nicht mehr aufhalten. Ich denke mit Schrecken an die Folgen, die kommen könnten.“ Wolfgang Müller, Essen