Ruhrgebiet. Tausende Ukrainer im Ruhrgebiet machen sich Sorgen um ihre Familien. Viele fühlen sich bei den schlechten Nachrichten aus der Heimat hilflos.
Zuletzt hat Anastasias Mutter jeden Morgen geschrieben. „Alles gut“, appte sie an die Tochter in Deutschland, nichts Neues, sie gehe jetzt zur Arbeit. Am Donnerstag war alles anders. Die Mutter schrieb nicht, sie rief an, morgens um halb fünf: Es sei etwas „in der Luft explodiert“. Und in Bochum begann Anastasia H. zu telefonieren. Schwester, Schwiegermutter, alle Verwandten in der Ukraine erzählten dasselbe. Ehemann Dmytro H. schüttelt immer noch den Kopf: „Wir haben einfach nicht glauben können, dass Putin wirklich angreift.“
Aber er hat es getan, und überall im Ruhrgebiet machen sich Tausende Menschen aus der Ukraine nun Sorgen um ihre Lieben daheim. Unablässig blinken ihre Handys auf: Nachrichten aus der Heimat; Anastasia, die 27-jährige Krankenschwester, hat mit ihrer Familie ein stündliches Update verabredet, sie lässt das Telefon kaum aus den Augen. Ihr Mann Dmytro, 34, ist noch zur Arbeit gegangen an diesem ersten Kriegsmorgen. Er ist Chirurg am St. Josef-Hospital in Bochum, er muss sich wirklich konzentrieren, aber wie? Seine Kinder aus erster Ehe leben noch in Tschernihiw nördlich von Kiew, nahe der belarussischen Grenze. Zwillinge, neun Jahre alt. Der Vater rief die Oma an, setzt euch ins Auto, sagte er, er hat noch eine Wohnung im Westen. „Zu spät“, sagte die Oma, überall Stau auf den Straßen, das Benzin ist knapp, „und in einer Stunde sind die Russen da“. Dmytro ging nach Hause.
„Wir waren doch fast wie ein Volk“
Zwei Tage Urlaub und das Wochenende, um zu begreifen. Es gibt Dmytro und Anastasia „Sicherheit“, dass sie die Situation nun etwas besser überblicken, sie basteln sich ein Bild aus den Bildern von daheim und dem deutschen Fernsehen: „Was Putin will“ weiß der Arzt aus dem TV, „es ist leichter, wenn du verstehst.“ Aber zugleich kann er genau das nicht. Russland, das war doch immer „der größere Bruder“, beide Länder hätten doch „so lange zusammengelebt“, sie waren doch „fast wie ein Volk“ – „ich verstehe das einfach nicht“.
Und was soll, was wird nun passieren? Dmytro H. hofft auf öffentlichen Druck, auf Demonstrationen in Deutschland, Russland, der Ukraine. Er hofft auf die Nato, die Putin vertreiben könnte, allein dadurch, dass sie präsent ist. „Dann hört der Krieg auf.“ Er redet sich ein, dass die Russen „nur militärische Objekte“ treffen wollen, „es ist nicht so , dass sie in Häuser schießen“, aber weiß ja auch: Es gibt „Getötete in der Zivilbevölkerung, viele Häuser sind zerstört“. Er glaubt an die ukrainischen Soldaten, die „ihre Arbeit machen“, und dennoch: „Unsere Soldaten können nichts gegen die russische Armee machen.“ Anastasia sagt: „Krieg ist immer sehr schlecht. Ich habe Angst.“
Anastasia und Dmytro wollen ihre Verwandten gern trösten
Das Schlimmste ist für sie, dass alle verstreut sind in der Ukraine, die Mutter in der Stadt, die Großmutter auf dem Land, sie haben in Bunkern und Kellern übernachtet, allein oder mit Nachbarn, andere schliefen in den U-Bahn-Haltestellen. „Sie möchten zusammen sein, aber es geht nicht.“ Und dann: „Jede halbe Stunde“, sagt Dmytro und überlegt kurz: „Dieses Geräusch, bumm, bumm.“ Bomben. Fliehen will derzeit noch niemand, „sie sind ukrainisch und wollen bleiben“. Anastasia und Dmytro wollen ihre Verwandten gern trösten, aber sie schaffen es nicht zu sagen: „Alles wird gut. Alles ist bald vorbei.“ Worin sie selbst Trost finden? Da greifen sie beide zu dem goldenen Kreuz, das sie an Ketten unter ihren Pullovern tragen.
Und sie sind nicht allein. In Gladbeck platzt das Smartphone von Gasan Abasyan fast vor all den Fotos und Videos aus der Ukraine. Cousin Suren schickt die Aufnahmen aus dem nördlichen Donezk, er hat, sagt Abasyan, „schon vor einer Woche Lebensmittel, Medikamente und Benzin gekauft und eingelagert, um auf eine Belagerung und Flucht vorbereitete zu sein“. Der Schwiegervater von Olga Manusova erzählte am Telefon, „dass seine Lebensmittel langsam knapp werden“. Dennoch wolle er bleiben, sagt die Dortmunderin, die für die Jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen tätig ist: „Er sagt, das ist sein Zuhause.“ Gemeinde-Geschäftsführer Alexander Chraga, einst West-Ukraine, heute Bochum, sieht, wie „dieser Krieg auch als tiefer Riss durch viele Familien unserer Gemeinde geht“.
„Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Lachen, weinen, schreien“
Für die Hernerin Julia P. war der Angriff „ein Schock“. Hatte die Oma nicht immer gesagt: „Beschwert euch nicht, Hauptsache, es ist kein Krieg“? Wie recht sie hatte! „Ich hätte niemals gedacht, dass es dazu kommen wird.“ In Langenberg versucht Alina Kats, „nicht in Panik zu verfallen“: „Ich sitze hier und kann nichts tun.“ In Witten hörte die gebürtige Ukrainerin Nataliya Koshel am Donnerstagmorgen von ihrer Mutter nur diese Worte: „Es ist soweit.“ Ihr sechsjähriger Sohn hatte seine Mutter noch nie weinen sehen.
Auch Lisa Böttcher aus Duisburg weint derzeit so viel „wie seit vielen Jahren nicht“. Die Tochter einer ukrainischen Mutter fühlt Wut, Sorge, Angst, Machtlosigkeit. „Lieber“, sagt die 20-Jährige, „wäre ich gerade dort, bei meiner Familie. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Lachen, weinen, schreien.“ Dabei sei in Angst zu verfallen, genau das, was Putin wolle – hat Sergej Kotlovski in Gelsenkirchenimmer von seinen Tanten und Onkeln gehört. Aber auch Alexander Drehmann, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen empfindet das genau so. Von „Fassungslosigkeit“, von „Machtlosigkeit“ spricht er beim Gedanken an seine alte Heimat. Und Mülheims SPD-Chef Rodion Bakum, einer der russische und ukrainische Wurzeln hat, stöhnt: „Der schlimmste aller Alpträume ist wahrgeworden.“
Es ist ein Uhr, zwei Uhr schon in der Ukraine, die Stunde ist rum. Das Handy-Display von Anastasia H. in Bochum leuchtet. Die Beine der 27-Jährigen können nicht mehr stillhalten, ihre Knie zittern, sie schüttelt heftig den Kopf. Was ihre Familie schreibt, möchte sie nicht verraten. „Ostern“, sagt sie leise, „wollten wir eigentlich hinfliegen.“
>>INFO: GELSENKIRCHENER BLEIBT VOR ORT
Der Gelsenkirchener Jürgen Hansen (64) ist schon seit Dezember in der Ukraine – und gedenkt zu bleiben. Er engagiert sich seit langem als Mitarbeiter im „Verband der Organisationen humanitärer Hilfe der Ukraine“, nun habe er ohnehin „keine Option mehr, hier wegzukommen, selbst wenn ich wollte“. Aber er will auch nicht, der Sozialdemokrat will helfen: „Ich bleibe aus Solidarität. Und weil ich eine Aufgabe habe.“