Duisburg/Lwiw. Lisa Böttcher ist Duisburgerin. Auch die Ukraine ist ihr Zuhause. In der Heimat ihrer Mutter verzweifeln ihre Verwandten. Ein Gefühlsbericht.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Krieg mit dem Angriff auf die Ukraine zurück nach Europa gebracht, mitten unter uns. Das verändert mit brutaler Wucht auch das Leben von Duisburgerinnen und Duisburgern direkt. Lisa Böttcher ist eine von ihnen. Die 20-Jährige ist Mitarbeiterin unserer Lokalredaktion. Ihre Mutter ist Deutsch-Ukrainerin: Tetyana war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Duisburg ausgewandert, hatte in Homberg 1999 ihren Uwe geheiratet. Die 58-Jährige stammt aus Lwiw im Westen der Ukraine. Dort, in der siebtgrößten Stadt des Landes, im früheren Lemberg, leben Lisa Böttchers Großmutter und ihr Onkel mit Frau und Kindern, ein Cousin mit Familie.
Die Journalistik-Studentin aus Homberg hat sich bei vielen Besuchen seit ihrer Kindheit in die Heimat ihrer Mutter verliebt, fühlt sich dort zuhause. Für uns hat sie über ihre Gefühlslage geschrieben, über Angst und Wut, Sorge und Stolz. Das ist ihr Gefühlsbericht, ihr Kommentar zum Krieg in ihrer Heimat:
„So oft geweint wie seit vielen Jahren nicht“
„Es ist nur schwer in Worte zu fassen, was ich fühle. In den letzten Tagen habe ich so oft geweint wie seit vielen Jahren nicht. Am Mittwoch hat Putin die Ukraine angegriffen. Ein Land, das seit Jahrhunderten unterdrückt wird. Ein Land, das seit Jahrhunderten für seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft. Das Land, aus dem meine Familie stammt und in dem sie bis heute lebt.
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Ich bin der Ukraine seit meiner Geburt tief verbunden. Obwohl ich in Deutschland geboren bin, habe ich mich dort immer zuhause gefühlt. Zwischen den Kartoffelbeeten und Apfelbäumen meiner Großmutter, beim Eiersammeln im Hühnerstall, beim Singen und Tanzen zu den Klängen von Straßenmusik in der Altstadt. Ich war nur wenige Jahre alt, da nahm mein Großvater mich mit zu den Nachbarn – Milch holen. Da rief der Nachbar: „Schau nur, wer da ist. Die kleine Deutsche.“ Und ich sagte „Ich bin keine Deutsche, ich bin Ukrainerin.“
Ich muss also seit Tagen mit anschauen, wie ein Land von 44 Millionen Einwohnern – Schüler, Studierende, Musiker, Wissenschaftler, Handwerker, Künstler, Eltern und ihre Kinder – aufgrund der verdrehten Überzeugungen und Kriegsfantasien eines einzigen Menschen in Schutt und Asche gelegt wird.
Nur pathetische Beileidsbekundungen und zurückhaltende Sanktionen
Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass ein Land den Angriffskrieg seines stärkeren und größeren Nachbarn ertragen muss, bloß weil dieser seine imperialistischen Ansprüche durchsetzen will? Wie kann es sein, dass die einzige Hilfe, die von Nato, EU und den USA kommt, pathetische Solidaritätsbekundungen und ein Haufen zurückhaltender Sanktionen sind, über die jemand wie Putin nur lachen kann. Ich finde darauf keine Antworten.
Allein das Datum des Angriffs – der 22.2.2022 – zeigt, dass diese Invasion keinesfalls eine mutige Rettungsaktion seitens Russland ist. Vor genau acht Jahren, am 22.2.2014 endete die Ukrainische Revolution, die viele noch als „Euromaidan“ kennen, mit einem Sieg für die ukrainische Bevölkerung. Dort zeigte sich, dass die Ukraine eine Demokratie ist. Und es wurde klar, dass die ukrainische Bevölkerung sich gen Westen orientiert. Weg vom autokratischen Nachbar, weg von der Korruption und Perspektivlosigkeit. Das konnte Putin nicht gut heißen.
Bisher hören sie nur Sirenen
Der Angriff auf die Ukraine war sorgfältig geplant, kalkuliert und wird jetzt minuziös Punkt für Punkt abgearbeitet. Unter dem Deckmäntelchen des großen Befreiungskrieges. Der Kreml will die angebliche Nazi-Regierung bekämpfen – in einem Land, das von einem jüdischen Präsidenten regiert wird, dessen Vorfahren unter dem Nazi-Regime leiden mussten.
Während Deutschland nun also über Spritpreise, DAX-Kurse und Gerhard Schröders Aktien debattiert, sitze ich seit fünf Uhr morgens vor Laptop, Fernseher und Smartphone, telefoniere mit meiner Familie in Lviv im Westen der Ukraine.
Bisher hören sie nur Sirenen, bombardiert wird die Stadt noch nicht. Diese Nacht konnten alle in ihren Betten schlafen – oder es zumindest versuchen. In Kiew übernachteten die Menschen in den Metrostationen. Bombenalarm, Luftschutzbunker. Die älteren Leserinnen und Leser erinnern sich vielleicht.
Sollen Mutter und Kind ohne Ehemann und Vater fliehen?
Meine Familie sitzt auf gepackten Koffern, weiß nicht, ob Flucht die bessere Alternative ist. Spätestens seit heute ist diese Entscheidung unmöglich. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen wegen der allgemeinen Mobilmachung nicht ausreisen. Soll eine Mutter ihr zweijähriges Kind nehmen und alles hinter sich lassen? In dem Wissen, dass sie ihren Ehemann, den Vater des Kindes vielleicht nie wieder sieht? Oder doch lieber da bleiben, die Familie beisammen halten und auf das Beste hoffen?
Meine Mutter weint, ich weine auch. Schon wieder, während ich diesen Text schreibe. Wut und Sorge mischen sich. Dazu kommt Angst. Machtlosigkeit. Nichts tun zu können. Lieber wäre ich gerade dort, bei meiner Familie.
Es gibt Momente, da glaube ich nicht, was gerade passiert. Da würde ich die Sirenen gerne selber hören, die Explosionen selber sehen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Lachen, weinen, schreien. Twitter aktualisiere ich im Minutentakt. Bleibt nur die Hoffnung.
Meine Freunde sind bei mir, nehmen mir ab und zu das Handy weg und kochen mir Tee. Einige von ihnen waren schon einmal mit mir in der Ukraine. Haben sich so wie ich in dieses vielfältige und wunderschöne Land verliebt. In ein Land voller Zivilisten, die nichts getan haben, um diesen Krieg, diesen tragischen Angriff auf jahrelange, hart erkämpfte Freiheit zu provozieren.
Mobilmachung: Die Meldestellen im ganzen Land werden von Freiwilligen überlaufen
In dieser Minute erreicht mich die Nachricht, dass russische Bodentruppen in Kyjiw einmarschieren. Die Angst wird größer. Dennoch: Die ukrainische Armee schlägt sich tapfer, hält länger durch, als wir erwartet hätten. Die Meldestellen im ganzen Land werden von Freiwilligen überlaufen.
Männer, die zum Arbeiten nach Polen gegangen sind, kommen zurück in die Ukraine – um zu kämpfen. Professoren aus Kyjiw twittern, dass ihre Studenten geschlossen an die Front gehen. Viele davon freiwillig, einige werden eingezogen. Spätestens jetzt sollte jeder gemerkt haben, dass dieser Krieg kein Spaß ist, kein Anlass für Witze oder deplatzierte Debatten über Kommunismus und Kapitalismus.
Zwischen all der Angst und Sorge gibt es auch einige helle Momente. Momente, in denen mich der Kampfgeist der Menschen in der Ukraine mit Stolz erfüllt und mich die Hilfe bewegt, die ich aus meinem Umfeld erfahre.
Kraft geben mir die Bilder von Demonstrationen und Protesten in Städten auf der ganzen Welt. Gerade die Aufnahmen von Menschen in Moskau und Russland, die sich in große Gefahr begeben, um gegen Krieg und gegen ihre Regierung laut zu werden.
„Wo gesungen wird, da ist noch nicht alles verloren“
Das beweist, dass dieser Krieg keineswegs von Russland oder dem russischen Volk geführt wird, sondern von Putin und seiner Machtelite. Auch russische Soldaten lassen ihr Leben.
Hoffnung geben mir Nachrichten und Beiträge vieler Journalisten, Politiker und Privatpersonen außerhalb der Ukraine, die versuchen, mit Informationen und guter Recherche gegen die Desinformation und die russische Propaganda vorzugehen. Und die Bilder von ukrainischen Menschen, die nachts in ihren Lagern der Kyjiwer Metro singen, um sich Mut zu machen.
Wie meine Oma einst gesagt hat: ,Wo gesungen wird, da ist noch nicht alles verloren.’“