Ruhrgebiet. Das Coronavirus beflügelt die Justiz. Zunehmend nutzen Gerichte neue technische Möglichkeiten. Beliebt ist die Verhandlung per Video.

Die Angst vor dem Coronavirus bringt die Justiz voran. Plötzlich nutzen die Gerichte schon länger erlaubte technische Möglichkeiten, um den Prozessalltag zu vereinfachen und die Verfahren zu beschleunigen. Ausgerechnet die Pandemie brachte Gutes und ließ die Zahl der Gerichtsverhandlungen per Video deutlich ansteigen.

Die Juristen am Richtertisch zeigten sich in der Vergangenheit eher kamerascheu. Das Gesetz verbietet in der Regel Bilder von laufenden Gerichtsverhandlungen. Sie gibt es weiterhin nicht, die Fernsehsender müssen ohne sie auskommen. Doch seit 2003 hat der Gesetzgeber in Paragraf 128a der Zivilprozessordnung die Möglichkeit erlaubt, Zivilverfahren per Video durchzuführen. Aufgezeichnet oder live übertragen werden dürfen sie aber nicht.

Videoverhandlungen in vielen Gerichtszweigen

Entsprechendes gilt auch für andere Justizzweige wie Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgericht. Der Strafprozess bleibt eine Ausnahme, hier ist weiterhin mit wenigen Ausnahmen der persönliche Auftritt wichtig.

Bis zu Beginn der Coronapandemie nutzte aber kaum ein Gericht die Möglichkeit der Videoverhandlung. Dann schnellten die Zahlen in die Höhe. Gerade im ersten Lockdown im März 2020 drohten Rechtsstreitigkeiten auf die lange Bank geschoben zu werden, weil die körperliche Nähe im Saal vermieden werden sollte und die Termine deshalb platzten.

Mobile Videoanlagen eingesetzt

Da erinnerten sich einzelne Richterinnen und Richter an die 17 Jahre alte Reform. Mobile Videoanlagen gab es fast an jedem Gericht, weil schon ein paar Jahre länger in Strafprozessen Zeugen, die aus Angst vor dem Angeklagten in einem Nebenraum saßen, per Video vernommen werden durften.

Bei der Zivilverhandlung per Video ist vorgeschrieben, dass das Gericht, übrigens in Robe, im Saal sitzt. So soll gewährleistet sein, dass die Öffentlichkeit Zugang erhält. Anwälte und die Parteien bekommen dagegen die Möglichkeit, sich per Kamera und Mikrofon zuzuschalten. Sie dürfen aber auch weiterhin im Saal erscheinen.

Familienrichter nutzt Video intensiv

"Diese Verhandlungen machen Sinn, wenn etwa ein Rechtsanwalt eine weite Anreise für einen kurzen Termin hat", weiß Familienrichter Mark Schneider vom Amtsgericht Mülheim/Ruhr. Er selbst nutze die Anlage sehr intensiv: "So 40 bis 50 Verhandlungen im vergangenen Jahr."

Geeignet seien Fälle, bei denen es keinen Streit gebe und es nicht so sehr auf Zeugenvernehmungen ankomme. Einvernehmliche Scheidungen nennt er als Beispiel. Er macht Einschränkungen: "Wenn es ums Sorgerecht geht, mache ich es nicht. Da will ich die Kinder direkt sehen." Auch in anderen Zivilverfahren wollen Richter die Beteiligten sehen, wenn es ihnen bei den Vernehmungen auf Mimik und Körpersprache etwa der Zeugen ankommt.

Ministerium sieht einen "Durchbruch"

Das NRW-Justizministerium hatte Anfang Januar stolz verkündet, die Pandemie habe der Videotechnik bei Prozessen "zum Durchbruch" verholfen. Genaue Zahlen kenne man aber nicht. "Durchbruch" ist vielleicht ein zu großes Wort, denn die Praktiker vor Ort beziffern den Anteil der Videoprozesse an allen Zivilverhandlungen ihres Gerichtes aktuell mit "Zahlen im einstelligen Prozentbereich", so Thomas Kliegel, Sprecher des Essener Landgerichtes.

Er kommt an seinem Gericht auf sieben Verhandlungstage im Monat, also rund 100 Verfahren im Jahr. Das Landgericht Duisburg, so Sprecher Henning Bierhaus, zählt 114 Videoverhandlungen im Jahre 2021 und betont, die Tendenz sei steigend.

Wuppertaler Richter besonders technikfreundlich

Besonders technikfreundlich sind offenbar die Richter am Landgericht Wuppertal, berichtet Sprecher Matthias Roth: "Bei uns haben nahezu alle Zivilkammern von der Möglichkeit Gebrauch gemacht." Im gesamten Landgerichtsbezirk - er umfasst unter anderem Städte wie Solingen, Erkrath, Velbert und Heiligenhaus - sind es 736 Sitzungen im Jahre 2021 gewesen, meldet er.

Die technische Ausstattung der Gerichte ist mittlerweile gut, die meisten Sitzungssäle sind mit festen Anlagen ausgestattet. "Da muss man das Ministerium mal loben", sagt der Mülheimer Richter Schneider. Bis vor drei Monaten hatte sich sein Amtsgericht die mobile Anlage noch mit dem Amtsgericht Oberhausen teilen müssen. Jetzt hat jedes eines.

Witten noch ohne Videoverhandlung

Aber die Technik ist nicht alles, sie muss auch genutzt werden. Barbara Monstadt, Direktorin des Amtsgerichtes Witten: "Unser Gericht hat zwar die Technik, bisher wurden trotzdem noch keine Videoverhandlungen durchgeführt."

Einen weiten Anreiseweg hat Familienrichter Mark Schneider bei einer Scheidung eingespart. Der zu scheidende Ehemann saß in Abu Dhabi, dessen Rechtsanwältin in Bayern. Sie wollte am Amtsgericht Regensburg per Video zugeschaltet werden. Plötzlich steckte die Anwältin im Stau fest. Da steuerte sie den nächsten Parkplatz an, zückte ihr Smartphone und nahm pünktlich an der Scheidung teil.