Heiligabend 1971 überlebt Juliane Diller einen Flugzeugabsturz über Peru - als einzige von 92 Insassen. Der Tag prägte ihr ganzes weiteres Leben.
Freitag will sie anstoßen mit ihrem Mann. Zum ersten Mal an einem Heiligen Abend. Anstoßen auf ihr „zweites Leben“, das ihr auf den Tag genau vor 50 Jahren geschenkt worden ist. Am 24. Dezember 1971. Der Tag, an dem das Flugzeug, in dem sie sitzt, vom Himmel über Peru stürzt und 91 von 92 Menschen an Bord sterben. Nur Juliane Diller nicht, die damals ein junges Mädchen ist und mit Nachnamen noch Koepcke heißt.
Von der peruanischen Hauptstadt Lima, nach Pucallpa im Amazonasgebiet, wo ihre von Deutschland nach Südamerika ausgewanderten Eltern eine Forschungsstation namens „Panguana“ betreiben, geht der Flug. Sie hätte – zusammen mit ihrer Mutter Maria – schon einen Tag früher fliegen können. „Aber ich wollte unbedingt am dreiundzwanzigsten Dezember zum Abschlussball meiner Schule.“ Ihre Mutter lässt sich breitschlagen, obwohl sie am nächsten Tag nur einen Flug bei Lanas kriegen können. Ausgerechnet Lanas, die Fluglinie, vor der ihr Vater stets gewarnt hat: „Viel zu unsicher.“
Zunächst geht alles gut. Bis der Pilot von Flug Lanas 508 kurz vor der Landung durch eine Unwetterfront fliegt, statt ihr auszuweichen. Ein Flügel wird vom Blitz getroffen, die Turbine gerät in Brand, schließlich zerbricht der Rumpf. Diller weiß noch, dass sie festgeschnallt in ihrem Sitz kopfüber der Erde entgegenrast. Und dass die Baumkronen, die immer näher kommen und wahrscheinlich ihren Fall gemildert haben, für sie „aussehen wie Brokkoli“. Dann wird sie ohnmächtig.
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Im Dschungel kommt keine Hilfe
Als sie fast 20 Stunden später die Augen wieder aufschlägt, liegt sie unter ihrem Sitz auf dem Boden. Sie ruft, doch niemand antwortet. Am Körper trägt die damals 17-Jährige nur ein dünnes Sommerkleid und eine Sandale. Die Augen sind geschwollen. Und – fast noch schlimmer – die Brille des stark kurzsichtigen Mädchens ist weg. „Ich konnte nur ganz verschwommen sehen.“ Aber sie hört Vögel singen, Frösche quaken, Insekten summen. Und deshalb weiß sie genau wo sie ist. Im Dschungel. Er ist für sie nicht die „grüne Hölle“, zu der die Boulevardpresse ihn nach der Rettung gerne macht. Er ist „ein Lebensraum, den ich kannte“.
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Aber es ist ein gefährlicher Lebensraum. Zumal Juliane verletzt ist. Lächerlich gering für einen Sturz aus einer solchen Höhe, aber eigentlich viel zu schwer für einen langen Marsch. Eine Gehirnerschütterung diagnostizieren die Ärzte später, offene Wunden am Rücken und an der Wade, ein gebrochenes Schlüsselbein und ein gerissenes Kreuzband im Knie. „Unmöglich, dass ein Mensch damit laufen kann“, wundern sich die Mediziner. Juliane kann es, sie will es, sie muss es, denn: „Wenn du im Dschungel auf Hilfe wartest, dann stirbst du.“ Als sie Wasser plätschern hört, bricht sie auf. Es ist nur ein Rinnsal. Aber sie weiß von ihrem Vater: „Aus einem Rinnsaal wird ein Bach, aus einem Bach ein Fluss. Und wo ein Fluss ist, sind Menschen.“
Doch der Weg zu diesen Menschen ist sehr beschwerlich. Auch weil die junge Frau immer schwächer wird. Zu essen hat sie nur eine Tüte Fruchtbonbons, und selbst die ist bald leer. Vorsichtig tastet sie sich mit einem Stock durch das Wasser, immer auf der Hut vor giftigen Stachelrochen. Ein Schlag ihres Schwanzes wäre ihr Tod. Überall summt, flattert und raschelt es. Kaimane und Schlangen gleiten vorbei, ihre Wunden sind längst von Maden befallen. Es regnet in Strömen. Und wenn es mal nicht regnet, fallen Schwärme von Stechmücken über die junge Frau her. Aber Juliane bleibt ruhig. „Ich habe den Dschungel nie als meinen Feind betrachtet.“
Angst, sagt sie, habe sie nie verspürt. „Nur große Einsamkeit.“ Vor allem in den Nächten, die sie angelehnt an dicke Bäume oder den Rücken schützend in einen Abhang gedrückt verbringt. „Liegend ist man für Raubkatzen ein attraktiveres Ziel.“
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Tagsüber geht es weiter. Immer weiter. Auch weil die Suchflugzeuge, die sie die ersten Tage noch am Himmel gesehen hat, verschwunden sind. „Ich wusste, ich war auf mich alleine gestellt.“ Nach elf Tagen aber ist sie mit ihren Kräften am Ende, lässt sich nur noch apathisch im Wasser treiben. Da entdeckt sie eine verlassene Hütte, in der sie Schutz sucht. Dort wird sie wenig später zufällig von Einheimischen gefunden und gerettet.
Den Wald retten, der sie einst rettete
Über Nacht ist Juliane berühmt geworden. Es ist ein Ruhm, den sie nicht will. Sie will Ruhe, ein normales Leben. Ihr Vater schickt sie zur Tante nach Deutschland. Dort macht sie Abitur, wird Zoologin, promoviert zum Thema „Fledermäuse“. An den Absturz aber denkt sie weiterhin fast jeden Tag. Bestimmte Geräusche, Gerüche oder Farben genügen und „alles war wieder da“. Sie gibt keine Interviews mehr, will nicht reden über die Tage im Dschungel und viele Jahre weiß sie zu Weihnachten nicht, ob sie sich über ihre Rettung freuen darf oder den Tod ihrer Mutter betrauen soll. An einem Abend im Jahr 1998 aber geht ihr Telefon. Am anderen Ende meldet sich Werner Herzog, der Regisseur. „Ich möchte gerne einen Film über ihr Leben drehen“, sagt er und überredet sie für die Dokumentation „Wings Of Hope“ (Schwingen der Hoffnung) noch einmal zur Absturzstelle zu kommen. „Ich habe mich der Vergangenheit gestellt. Das war der Wendepunkt.“ Mittlerweile hat sie nicht nur ein Buch über den Absturz geschrieben („Als ich vom Himmel fiel“, Malik Verlag, München) und baut ihre Geschichte in die vielen Vorträge ein, die sie hält. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2000 hat sie auch von Deutschland aus die Leitung der Panguana-Station übernommen. Bis heute fliegt sie gemeinsam mit ihrem Mann regelmäßig nach Peru. Für ein paar Wochen, seit ihrer Pensionierung als stellvertretende Direktorin der Zoologischen Staatssammlung München auch mal länger. Um zu forschen im Regenwald, der immer noch weit weniger erforscht ist, als der Laie denkt. Vor allem aber, um den Wald zu retten, der sie einst rettete. Nicht nur für die Menschen, die dort leben, sondern gemeinsam mit ihnen. „Anders geht das auch gar nicht.“
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Keine Angst mehr beim Fliegen
Projekte zur Fischzucht und zum Gemüseanbau gibt es. Palmen, Kakao und andere Nutzpflanzen werden angebaut. „Die Menschen dort sind arm. Sie interessiert es nicht, welcher Frosch da gerade quakt, sie müssen ihre Familien durchbringen. Deshalb müssen sie einen Vorteil davon haben, dass sie den Wald stehen lassen“.
Das „Großoffizierskreuz des Verdienstordens der Republik Peru“ hat sie für ihren Einsatz bekommen und in diesem Jahr auch das Bundesverdienstkreuz. Eine Ehre, klar. Motivation auch. „Aber“, sagt Diller, „ohne den Absturz wäre mein Engagement vielleicht nie so groß geworden.“ „Geschachert“ hat sie damals in den einsamen Nächten, hat versprochen, als Gegenleistung für eine Rettung „was sinnvolles zu machen“. Das löst sie ein, seit sie sich damit abgefunden hat, „dass ich in einem Käfig mit meiner Geschichte gefangen bin und ihr nicht entkommen kann“. Sogar fliegen kann sie längst wieder. Ohne Angst aber manchmal mit Nervosität. „Wenn am Himmel Blitze zucken und die Maschine in Turbulenzen gerät, kriege ich immer noch feuchte Handflächen.“
Weihnachten wird sie in München mit ihrem Mann feiern. „Ganz entspannt.“ Und – anders als früher – ohne zu grübeln, wie und warum sie den Absturz und die Tage im Dschungel vor einem halben Jahrhundert überlebt hat. „Eine Verkettung glücklicher Umstände“, sagt Diller. Vieles kann sie sich und anderen nach zahllosen Gesprächen mit Medizinern oder Flugzeug-Experten erklären, manche Fragen sind bis heute offen. Und sie rechnet auch nicht mehr mit Antworten. „Am Ende“, sagt sie, „liegt wohl auch ein Hauch von Wunder über der ganzen Geschichte.“
Weitere Informationen über die Station im peruanischen Regenwald gibt es unter www.panguana.de im Internet.
Wer Spenden will für das Projekt: Panguana Stiftung; IBAN: DE79 7015 0000 1005 4606 86 / BIC: SSKMDEMMXXX Bank: Stadtsparkasse München
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