Duisburg/Essen. In Zukunft Wasserstoff statt Kohle – darauf setzen Konzerne wie Thyssenkrupp und RWE. Bei Thyssenkrupp gibt es sogar Pläne für einen Börsengang.

Tekin Nasikkol hält seinen weißen Helm mit der Aufschrift „Stahl ist Zukunft“ in den Händen und redet sich erst einmal warm. Gleich soll SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in Duisburg eintreffen, um mit Beschäftigten von Thyssenkrupp Steel zu sprechen. Am Parkplatz von Tor 3 schärft Gesamtbetriebsratschef Nasikkol seine Argumente. Es ist ein sonniger Tag im September, drei Tage vor der Bundestagswahl. Nasikkol hat die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt, seine Arbeitsschutzjacke leuchtet grell im Licht. „Die Stahlindustrie steht vor ihrer größten Herausforderung überhaupt“, sagt er. Die Hochöfen, die Duisburg seit Jahrzehnten prägen, sollen in einigen Jahren verschwinden. Stahl wird dann voraussichtlich nicht mehr mit Kokskohle, sondern mit Wasserstoff hergestellt. Auf einem Werksgelände, das fünf Mal so groß ist wie Monaco, muss sich Thyssenkrupp neu erfinden. „Das ist eine historische Veränderung“, sagt Nasikkol.

Die Betriebsräte haben auf dem Werksgelände eine kleine Bühne für Olaf Scholz aufgebaut. Es gibt Kaffee und belegte Brote. Einige Stahlarbeiter, allesamt Männer, haben sich auf Fragen an den Kanzlerkandidaten vorbereitet. Mit einem „hallo Olaf“ beginnt einer von ihnen seinen Beitrag. Auch Mehmet Göktas meldet sich zu Wort, der als Betriebsrat die Schließung des Duisburger Grobblechwerks miterleben musste. Ein Beschäftigter aus der Kokerei fragt Scholz besorgt, wie es weitergehen solle, wenn Kokereien künftig nicht mehr gebraucht werden für die Stahlproduktion in Deutschland. „Ich würde mir wünschen, dass du auch nach der Wahl mal auf einen Kaffee vorbeikommst“, beendet einer der Redner seinen Beitrag.

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Scholz signalisiert Unterstützung, vermeidet aber direkte Versprechen. Er werde sich dafür einsetzen, dass Stahl auch künftig in Deutschland hergestellt werden könne, sagt er. Rasch nach einem möglichen Amtsantritt wolle er insbesondere dafür sorgen, dass der Ausbau der Erzeugung erneuerbarer Energie vorangetrieben werde, um so auch die Produktionsprozesse in der Stahlindustrie zu unterstützen. Mit Blick auf die erforderlichen milliardenschweren Investitionen in der Stahlindustrie stellt Scholz Fördermittel in Aussicht, ohne konkrete Summen zu nennen. Dann produziert der Kanzlerkandidat noch Bilder, die auch ein Statement sind: An einem Hochofen auf dem Duisburger Areal lässt sich Scholz mit einem Helm und Arbeitskleidung von Thyssenkrupp ablichten.

Rückblick auf den Besuch von Olaf Scholz bei Thyssenkrupp Steel

„Ich bin mir sicher, er hat verstanden, worum es hier geht“, sagt Tekin Nasikkol, als er einige Wochen später auf den Besuch von Scholz zurückblickt. Es ist Ende Oktober, der SPD-Kandidat hat die Wahl gewonnen und steuert auf das Kanzleramt zu. Die IG Metall hat einen „Aktionstag“ organisiert und

Solidarität mit den Stahlarbeitern: Der neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) im Oktober bei einer Kundgebung der IG Metall vor der Zentrale von Thyssenkrupp Steel in Duisburg.
Solidarität mit den Stahlarbeitern: Der neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) im Oktober bei einer Kundgebung der IG Metall vor der Zentrale von Thyssenkrupp Steel in Duisburg. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Tausende Beschäftigte versammeln sich vor der Konzernzentrale von Thyssenkrupp Steel in Duisburg. „Jetzt muss Olaf Scholz beweisen, dass er zu tausend Prozent zum Stahlstandort Deutschland steht“, ruft Nasikkol von der Bühne – und seine Stimme scheint sich fast zu überschlagen. Kurz zuvor hat er noch mit dem neuen NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) geplaudert, der angereist ist, um in Duisburg ein Zeichen der Solidarität mit den Stahlarbeitern zu setzen.

Im Publikum hört unter anderem Holger Schluck zu, 52 Jahre alt, Wohnort Bochum, Arbeitsplatz Gelsenkirchen bei der Thyssenkrupp-Tochter Electrical Steel. „Entweder uns gelingt der Umbau und wir sind Vorreiter – oder der Stahl wird künftig im Ausland produziert“, sagt Schluck. Michael Laudert, ein Mitarbeiter von Thyssenkrupp in Essen, hebt hervor, dass es nicht nur um die Hochöfen geht, sondern um lange Wertschöpfungsketten, die an der Stahlproduktion in Duisburg hängen. Die Hoffnung ist, dass Stahl künftig klimafreundlich hergestellt werden kann – vor allem mit Wasserstoff. „Der Markt wird es nicht richten“, sagt IG Metall-Vorstand Jürgen Kerner auf der Bühne vor der Duisburger Konzernzentrale. Wenn die Politik jetzt nicht mutig handle, „dann wird uns der Markt richten“. Daher sei eine staatliche Anschubfinanzierung für Unternehmen wie Thyssenkrupp Steel so wichtig.

Beschäftigte von HKM, Arcelor-Mittal und Siemens Energy auf der Straße

An den Spruchbändern lässt sich ablesen, dass die Beschäftigten, die zum „Aktionstag“ nach Duisburg gereist sind, von Dutzenden Standorten aus Nordrhein-Westfalen kommen. Männer mit Helmen von HKM sind zu sehen, daneben flattern Transparente von Arcelor-Mittal aus Bottrop und Siemens Energy aus Mülheim.

Der neue Ministerpräsident Wüst hört sich die Reden der Belegschaftsvertreter geduldig am Bühnenrand an, und er applaudiert mehrmals höflich, bevor er selbst ans Rednerpult tritt. Er wolle beides möglich machen, sagt er eingangs: Klimaschutz und Industrie. Er sei sich dessen bewusst, dass Hunderttausende Arbeitsplätze an energieintensiven Branchen wie der Stahl-, Chemie-, Alu- oder Zementindustrie hängen. Stahl werde als Werkstoff auch in Zukunft gebraucht, „deshalb braucht der Stahl auch Zukunft in Deutschland“, ruft Wüst. Es sind keine exakten Zusagen, sondern es ist eher eine generelle Botschaft, die mit seinem Auftritt verbunden ist. Wüst selbst formuliert es so: „Meine Tür steht offen. Sie können sich auf meine Landesregierung verlassen.“

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Die nordrhein-westfälische DGB-Vorsitzende Anja Weber kommentiert den Auftritt kurz darauf über den Kurznachrichtendienst Twitter. „Typisch NRW“, schreibt sie. „Gewerkschaften gestalten Zukunft und den ersten Arbeitstag des Ministerpräsidenten. Gefällt mir.“

Armin Laschet, der Amtsvorgänger von Wüst, hat das Ziel ausgegeben, NRW zum „Wasserstoffland“ zu machen. In einem Strategiepapier, das den Titel „Aufbruch in die Zukunft“ trägt, tauchen Projekte mit einem Investitionsvolumen von rund vier Milliarden Euro auf. Die Vorhaben reichen von der Erzeugung über den Transport bis zur Speicherung und Anwendung von Wasserstoff in NRW. „Es ist ein Hype entstanden“, sagt Markus Krebber, der neue Chef des Essener Energiekonzerns RWE, schon vor einigen Monaten. Wasserstoff sei „längst nicht mehr ein Thema nur für Fachleute“. Denn es sei klar, dass eine Dekarbonisierung der Industrie und von Luftfahrt oder Schwerlastverkehr ohne Wasserstoff nicht funktionieren werde. RWE wolle dabei eine wichtige Rolle spielen.

RWE-Managerin Sopna Sury spricht von „Wasserstoff-Wunderland“

Dafür soll unter anderem Sopna Sury sorgen, eine 47-jährige Managerin, die neu im Vorstand der RWE-Tochter Generation ist. Sie wolle das Ruhrgebiet „zum Wasserstoff-Wunderland machen“, schrieb das Magazin „Der Spiegel“ kürzlich über sie. Sury versprüht einen unerschütterlichen Optimismus, als sie sich aus Berlin für die Podcast-Aufzeichnung von „Die Wirtschaftsreporter“ meldet. Wenn es um den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur gehe, komme insbesondere dem niedersächsischen RWE-Standort Lingen

Die RWE-Managerin Sopna Sury soll für den Essener Energiekonzern Wasserstoff-Projekte zum Erfolg führen.
Die RWE-Managerin Sopna Sury soll für den Essener Energiekonzern Wasserstoff-Projekte zum Erfolg führen. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

eine große Bedeutung zu. „Ja, das ist vielleicht ein Stück weit ein Wasserstoff-Wunderland“, sagt Sury im Plauderton. Im großen Stil will RWE künftig im Emsland über Elektrolyse grünen Wasserstoff erzeugen. Ab dem Jahr 2024 soll damit unter anderem die BP-Raffinerie in Gelsenkirchen versorgt werden – größtenteils über bestehende Gaspipelines. Momentan laufen schon die Arbeiten für die Anbindung von Gelsenkirchen-Scholven. Auch der vom Essener Chemiekonzern Evonik geprägte Standort Marl soll ans Netz gebracht werden. Später könnte der Wasserstoff auch zum Stahlstandort Duisburg mit den Anlagen von Thyssenkrupp gelangen.

Bevor sie in die Energiewirtschaft gewechselt ist – zu Eon, Uniper und schließlich zu RWE –, hat Sury einige Jahre bei der Unternehmensberatung McKinsey gearbeitet. Ihr nüchternes Kalkül in Sachen Wasserstoff lautet: Wenn erst einmal große Elektrolyseure für die Produktion von Wasserstoff in Betrieb sind, gebe es auch Kostensenkungen. „Das wird noch alles kommen“, sagt Sury voraus.

Der künftige Bedarf an Wasserstoff ist aller Voraussicht nach enorm. Auch Gaskraftwerke, schwere Lkw und Lokomotiven könnten in Zukunft mit Wasserstoff betrieben werden. Doch mit Blick auf die Produktion und Speicherung des Energieträgers sind viele Fragen offen. So sind für die Herstellung von klimaneutralem Wasserstoff in Elektrolyseuren riesige Mengen Solar- und Windstrom erforderlich. Bislang gibt es davon bei weitem nicht genug.

Für Thyssenkrupp Steel, die Duisburger Stahltochter des Essener Industriekonzerns, ist die große Frage: Woher soll grüner Wasserstoff in großen Mengen zu bezahlbaren Preisen kommen? Allein mit inländischer Produktion lässt sich der Bedarf sehr wahrscheinlich nicht decken. Im Oktober hat sich Markus Grolms, Vorstandsmitglied von Thyssenkrupp Steel, gemeinsam mit weiteren Verantwortlichen im Konzern auf eine mehrtägige nach Marokko begeben, um auszuloten, welche Möglichkeiten für Wasserstoff-Importe realistisch sind. „In der Vergangenheit haben wir gelegentlich in die Rücklichter von anderen geguckt“, sagt er zur Begründung. „Beim Thema Wasserstoff wollen wir jetzt vorne mit dabei sein.“ Dazu soll auch ein Einstieg beim Wüstenstromprojekt Dii Desert Energy beitragen, das über ein jahrelang aufgebautes Netzwerk in der Region verfügt.

Thyssenkrupp-Manager loten Chancen für Wasserstoff-Wirtschaft in Marokko aus

„Es ist atemberaubend, was sich innerhalb weniger Jahre im Mittleren Osten und in Afrika in Sachen Wasserstoff getan hat“, erzählt Cetin Nazikkol, bei Thyssenkrupp verantwortlich für die Region Asien-Pazifik-Afrika. Nazikkol ist in einer gemeinsamen Videokonferenz mit Grolms aus Istanbul zugeschaltet. Die sonnen- und windreichen Regionen seien prädestiniert für die Produktion von grünem Strom, der für die Wasserstoff-Herstellung gebraucht werde, sagt der Manager. Er führe derzeit viele Gespräche und knüpfe Kontakte zu Akteuren, die Wasserstoff-Projekte vorantreiben. „Da ist ganz viel Bewegung drin“, sagt Nazikkol. Thyssenkrupp habe dabei eine Doppelrolle: „Wir sind nicht nur ein potenzieller Abnehmer von Wasserstoff, sondern auch ein führender Hersteller von Anlagen zur Wasserstoff-Produktion. Das macht das Thema für uns so spannend.“

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Dii-Chef Cornelius Matthes – aus Dubai zugeschaltet – pflichtet Nazikkol bei. „Es tut sich enorm viel“, sagt Matthes – und seine Augen leuchten dabei. Auf der Reise mit Aufenthalten in Casablanca, Rabat und Marrakesch haben Grolms und Nazikkol die Verbindung zum Dii-Netzwerk mit aufgebaut. Ihre Tour führt sie auch in die Prä-Sahara über einen Bergpass in 2500 Metern Höhe zum weltweit größten Solarthermie-Komplex.

Doch kann Thyssenkrupp wirklich auf Wasserstoff-Importe aus Marokko hoffen? Er gehe davon aus, dass nicht nur die Produktions-, sondern auch die Transportkapazitäten für Wasserstoff aufgebaut werden, erklärt Matthes, etwa über Schiffe, in Zukunft aber ganz sicher auch mit neuen und umgewidmeten Pipelines. „Die Produktion von Wasserstoff zu organisieren, ist grundsätzlich kein Problem“, urteilt Grolms. „Das ist eine wichtige Botschaft für Thyssenkrupp. Aber es stellt sich die Frage, wie wir den Wasserstoff nach Duisburg bekommen.“ Es gibt zwar schon Pipelines von Nordafrika nach Europa, etwa von Marokko nach Spanien. Das Netz müsse aber erweitert werden.

„Nachhaltig erzeugter Wasserstoff ein großer Wachstumsmarkt“

„Wir erwarten, dass nachhaltig erzeugter Wasserstoff in den nächsten Jahren einen großen Wachstumsmarkt darstellen wird“, sagt Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz bei der Jahresbilanz des Konzerns im Essener Konzernquartier im November. Ausgerechnet die vergleichsweise kleine Dortmunder Firmeneinheit Uhde Chlorine Engineers – kurz UCE – wird daher zum Hoffnungsträger im Konzern.

Pläne für einen Börsengang beflügeln die Fantasie. UCE stellt Elektrolyse-Anlagen zur Wasserstoff-Produktion her und könnte vom Hype rund um den geplanten Aufbau einer klimaneutralen Industrie profitieren. „Als einer von wenigen Anbietern weltweit können wir schon heute Wasserstoff im Gigamaßstab produzieren“, sagt Merz. Nordrhein-Westfalen dürfe sich glücklich schätzen, einen der führenden Hersteller von Wasserelektrolyse im Land zu haben, fügt sie hinzu – und versprüht dabei einen Optimismus, der im Unternehmen lange Zeit gefehlt hat. Bereits im Frühjahr könnte die Zeit für den Börsengang reif sein, kündigt Merz an. Doch bis erstmals Stahl mithilfe der Hochofen-Nachfolgetechnologie in Duisburg produziert wird, ziehen voraussichtlich noch einige Jahre ins Land. Das von Thyssenkrupp angestrebte Datum lautet derzeit: 2025.