New York. Jeder weiß, wo er war, als die Flugzeuge vor 20 Jahren in die Türme flogen. Feuerwehrmann Bobby hat überlebt – seine Geschichte ist längst meine.

Mein Mann Robert Baran, FDNY-Lieutenant der Ladder 12 Company in Chelsea (Downtown Manhattan) war auf dem Nachhauseweg von der Nachtschicht, als er von der Brooklyn Bridge aus das World Trade Center in Flammen stehen sah.

Robert Baran, FDNY-Lieutenant der Ladder 12 Company in Chelsea, war am 11. September 2001 im Einsatz am World Trade Center in New York.
Robert Baran, FDNY-Lieutenant der Ladder 12 Company in Chelsea, war am 11. September 2001 im Einsatz am World Trade Center in New York. © privat

Ohne zu überlegen, hielt er an der nächsten Feuerwache an und sprang auf einen der ausrückenden Wagen. Gerade als er am Südturm ankam, stürzte das Gebäude ein. Im letzten Moment konnte er sich in eine Parkgarage westlich der Türme flüchten und verbrachte bange Minuten mit einem Fremden in einer Abstellkammer. Als ihn die Staubwolke erreichte, zerriss er das T-Shirt, das er unter seiner Uniform trug, und hielt es sich vor das Gesicht. So tastete er sich langsam zur Unglücksstelle vor. Als er dort ankam, wurde er fast von den Trümmern des einstürzenden Nordturms getroffen, hätte er nicht in letzter Sekunde unter einem Notarztwagen Schutz gefunden.

Der Freund wurde nie gefunden

Die nachfolgenden Tage blieb er am Ground Zero. In den Trümmern suchten er und die anderen Rettungskräfte so gut wie vergeblich nach Überlebenden. Auch Leichen fand er keine. Immer wenn er ein Körperteil in den Trümmern entdeckte, hatte er Hoffnung, doch noch ein Menschenleben zu retten, aber nur einzelne Arme, Füße und einmal ein Ohr kamen zum Vorschein, überzogen mit weiß-grauer Staubschicht.

Nachts schlief er nur wenige Stunden auf Parkbänken im Battery Park, deckte sich mit Leichentüchern zu, die nicht gebraucht wurden. Fast drei Tage lang blieb Bobby am Ground Zero und durchsuchte die Trümmer. Später erfuhr er, dass fünf Feuerwehrmänner seiner Wache ums Leben gekommen waren. Er verlor außerdem einen seiner besten Freunde, Mike Carlo. Mikes Leiche wurde, wie viele andere, nie gefunden.

In unserem Haus hängt ein Foto, das in einer Bar in Key West aufgenommen wurde. Bobby trägt Mike auf den Schultern und beide lachen in die Kamera. Für die Woche nach dem 11. September 2001 hatten sie bereits eine weitere Reise nach Key West gebucht, um einen Tauchurlaub zu machen.

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Seit 9/11 hat sich das Leben meines Mannes für immer verändert. Wie auch für Kriegsveteranen und Überlebende von Katastrophen, ist diese Zeit eine Wunde geblieben, mit der wir für immer leben. Für Bobby kamen die Veränderungen nicht gleich. Zehn Monate lang arbeitete er weiter, übernahm so viele Schichten wie möglich.

Fast täglich ging er außerdem auf Beerdigungen. Mehrere hundert Trauerfeiern, schätzt er, seien es gewesen. In seiner dunkelblauen Uniform und weißen Mütze stand er mit erhobenem Kopf Spalier, wurde ein Kollege, ein Freund zu Grabe getragen.

Die erste Veränderung, die er bemerkte, war, dass er die Melodie von „Amazing Grace“, die traditionell auf dem Dudelsack gespielt wird, wenn sich der Trauerzug in Bewegung setzt, nicht mehr ertragen konnte. Nach einigen Monaten fühlte er sich innerlich gefangen. Weinen half, das Gefühl der Beengtheit abzulegen. Hilfe suchte er nicht.

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Bobby und ich trafen uns zum ersten Mal im August 2002 in Deutschland, als er zusammen mit Kollegen nach den Anschlägen vom niedersächsischen Landesfeuerwehrverband eingeladen worden war. Ein Geschenk, das Solidarität bekräftigen sollte, vollgepackt mit Tagestouren, darunter auch ein Besuch der Kaiserstadt Goslar im Harz. Dort arbeitete ich als Volontärin bei der dortigen Lokalzeitung. Für die Kleinstadt war das Eintreffen von 20 New Yorkern damals etwas ganz Besonderes. Da der Redakteur, der die Feuerwehrleute zu einem offiziellen Empfang mit dem Bürgermeister begleiten sollte, verkatert im Bett lag (er hatte die New Yorker am Abend zuvor auf einer Kneipentour begleitet), wurde ich zu dem Termin geschickt. Als Hinweis gab mir der Redakteur noch mit auf den Weg, dass ich mich an Robert halten solle, weil er sehr deutliches Englisch spräche (was nicht stimmte).

Jetzt kommt der kitschig klingende Teil der Geschichte: Für uns beide war es Liebe auf den ersten Blick, als ich den 1,95 Meter großen Mann mit dem makellosen Lächeln fragte: „Are you Robert?“. Im Sommer 2005 zog ich nach New York und im Frühjahr 2006 heirateten wir in Goslar – im Kreise aller, die unsere Geschichte mitverfolgt und uns in den Jahren unserer Distanzbeziehung unterstützt hatten.

Ein kleiner Unfall brach die Wunde auf

Bis kurz nach der Geburt unseres zweiten Sohnes dachten wir beide, dass Bobby seine Vergangenheit durch Reden und unsere Liebe verarbeiten könne. Er ging 2007 in den Ruhestand, was bei Feuerwehrleuten und bei der Polizei in New York nach 20 Dienstjahren durchaus normal ist. Aber Trauma ist tückisch und kehrt immer wieder zurück.

Zum 20. Jahrestag der Anschläge wird Bobby eine Betonkonstruktion aus Teilen des World Trade Centers im Meer versenken. In Gedenken an seinen Freund Mike Carlo.
Zum 20. Jahrestag der Anschläge wird Bobby eine Betonkonstruktion aus Teilen des World Trade Centers im Meer versenken. In Gedenken an seinen Freund Mike Carlo. © roboneal.com | Rob O'Neal

An einem kalten Tag im November 2009 verschüttete ein junges Mädchen beim Autofahren ihren Kaffee, war abgelenkt und fuhr leicht auf unser Auto auf. Es war ein Bagatellunfall, wir alle schienen unverletzt, bis Bobby versuchte, seinen Nacken zu bewegen und vor Schmerzen zusammenzuckte. Als der Rettungswagen eintraf, war schnell klar, dass es sich um keine schlimme Verletzung handelte. Als ich gerade die Kinder aus dem Auto hievte, hörte ich Bobby plötzlich schreien. Er lag auf einer Notfallliege und hatte eine Panikattacke, weil die Sanitäter die Gurte zu fest über seinen Brustkorb geschnallt hatten. Von diesem Tag an, wurde klar, dass Bobby Hilfe brauchte, die wir ihm nicht geben konnten.

Einige weitere Panikattacken folgten. Eine so schlimm, dass wir ein bereits anrollendes Flugzeug wieder verlassen mussten und uns im Schneesturm mit Kindern und Gepäck auf dem Rollfeld wiederfanden.

Die Feuerwehr in New York bietet psychologische Betreuung und Therapien an. Bobby machte eine Einzel- und eine Gruppentherapie mit und auch ich hatte ein paar Sitzungen mit einer der Psychologinnen. Er wurde mit PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) diagnostiziert. Mit Medikamenten und einer Langzeittherapie geht es ihm zwar besser, aber Fahrstühle, Feuerwerk und Menschenmassen stellen ihn nach wie vor auf die Probe.

Bobby vermeidet es, über das Thema zu sprechen. Über die Jahre hat es mich immer wieder überrascht, wie unverblümt Fremde ihn nach seinen Erlebnissen fragen, wenn sie hören, dass er Feuerwehrmann in Manhattan war. „Hast du viele Tote gesehen?“ ist nur eine Frage, die wir leider oft hörten.

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Mit den Jahren ist diese voyeuristische Neugier mitsamt des öffentlichen Interesses am 11. September verblasst. Als ich Bobby im September 2002 zum ersten Mal in Manhattan von der Arbeit abholte, hielten fremde Leute noch auf der Straße an, um ihm die Hand zu schütteln und ihm zu danken. Heute gibt es kaum noch Dankesbekundungen oder Sonderkonditionen für die Feuerwehrleute, die 2001 ihr Leben am World Trade Center riskiert haben.

Seit einigen Jahren leben wir nördlich von New York City, in der kleinen Stadt Katonah. Unsere beiden Kinder, die inzwischen 12 und 15 Jahre alt sind und zweisprachig aufwachsen, gehen auf eine öffentliche Schule. Die 11. September kommen und gehen. Im Unterricht wird kaum bis gar nicht über das Thema gesprochen. Einer der Mathematiklehrer unserer Söhne arbeitete als Finanzmanager im World Trade Center und verlor damals fast alle seine Kollegen und Kolleginnen. Er überlebte, weil er an dem Tag auf Geschäftsreise war. Wenn er diese Geschichte bei Elternabenden erzählt, kann man eine Stecknadel fallen hören.

Unsere Autorin Annette Baran mit Bobby und ihren Kindern Benni und Connor (rechts).
Unsere Autorin Annette Baran mit Bobby und ihren Kindern Benni und Connor (rechts). © privat

den Schuldenberg der USA in unermessliche Höhen getrieben?

Die Amerikaner und Amerikanerinnen, die ich kenne, behalten ihre Meinung für sich. Beim Grillen oder am Spielfeldrand von Fußballspielen geht es um Alltagsthemen. Die Menschen haben seit Trump gelernt, dass Politik-Gespräche mehr als je zuvor die Gesellschaft spalten, wenn nicht nur Gleichgesinnte beisammen stehen. So bleibt es in unserer Kleinstadt ruhig.

Still wird es auch dort sein, wo Bobby den 20. Jahrestag der Anschläge verbringen wird. Mit einer Gruppe Feuerwehrmänner fliegt er nach Key West, um dort an Bord des Schiffs „FF Mike Carlo“, dessen Kapitän ein Freund ist, eine Betonkonstruktion aus Teilen des World Trade Centers im Meer zu versenken. Die Skulptur der Künstlerin Sandra Priest wird das Herzstück des General Vandenberg Artificial Reefs und eine Gedenkstätte für Mike bilden, der leidenschaftlicher Taucher war. Über die Jahre werden sich Korallen und Muscheln auf dem Stein ansiedeln. Touristen und Einheimische können durch das Riff gleiten, während sie nur ihr eigenes Atmen hören. Doch wie lange es dauern wird, bis sich auf den Überresten der Türme das Leben unter Wasser in seiner Vielfalt ausbreitet, weiß niemand.

Dort, wo einst das World Trade Center stand, ist der Alltag schon lange zurückgekehrt. Die 9/11 Gedenkstätte und das daneben liegende Museum gehören zum Standardprogramm für Touristen. Das One World Trade Center ragt gegenüber mit seiner schillernden Glasfassade in den Himmel. Seit seiner Eröffnung Ende 2014 hat es über 10 Millionen Besucher gesehen.

New York City hat seine größte Wunde erfolgreich zubetoniert. Die körperlichen und seelischen Narben der Überlebenden hingegen, wie die von Bobby, bleiben für immer.

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