Dortmund/Zicherie. Im Oktober 1961 wurde der Reporter Kurt Lichtenstein von DDR-Grenzern erschossen. Die Hintergründe sind bis heute unklar. Eine Spurensuche.
Um die Mittagszeit des 12. Oktober 1961 hält auf der Landstraße zwischen dem niedersächsischen Zicherie und Kaiserwinkel beim Kilometerstein 6,5 ein roter Ford Taunus mit Dortmunder Kennzeichen. Der Fahrer steigt aus und geht auf eine Gruppe Landarbeiter zu, die auf einem Acker Kartoffeln abernten. Dann fallen Schüsse, später wird man feststellen, dass insgesamt 24 Kugeln abgefeuert wurden. Der Mann mit dem Ford bricht getroffen zusammen, wenige Stunden später ist er tot. Sein Name: Kurt Lichtenstein, Chefreporter der Westfälischen Rundschau in Dortmund. Die Todesschützen: Zwei Grenzposten der DDR. Der Tatort: Die deutsch-deutsche Grenze.
Kurt Lichtenstein, damals 49 Jahre alt, ist der erste Tote an Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Auch 60 Jahre danach bleiben Fragen zu dem Fall offen. Wurde der Journalist Opfer des Schießbefehls, den das SED-Regime an die Grenztruppen ausgegeben hatte? Oder aber wurde ein abtrünniger Ex-Kommunist gezielt getötet?
Wer war Kurt Lichtenstein?
Drei Tage vor den verhängnisvollen Schüssen von Zicherie war Lichtenstein in Lübeck gestartet. Mit dem Auto will er die knapp 1400 Kilometer lange deutsch-deutsche Grenze abfahren und über die Menschen, die er dort trifft, für die Westfälische Rundschau berichten. Als er in Zicherie, dem Grenzort bei Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, die Landarbeiter auf dem Feld sieht, geht er auf sie zu, will mit ihnen reden. Zu dieser Zeit ist die Grenze über weite Strecken noch nicht der spätere Todesstreifen, sondern streckenweise unübersichtliches Gelände. Lichtenstein weiß womöglich nicht, wo die Grenzführung verläuft. Später wird in einem Bericht der DDR-Grenzbereitschaft zu lesen sein, „die Festnahme eines Grenzverletzers West – DDR unter Anwendung der Schußwaffe“ 40 Meter entfernt vom Grenzverlauf auf DDR-Gebiet sei erfolgt.
Lichtenstein, Sohn eines jüdischen Schuhmachers aus Berlin, trat im November 1931 in die KPD ein. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 emigrierte er in die Sowjetunion, wo der gelernte Werkzeugmacher in den Automobilwerken „Josef Stalin“ arbeitete. Schon 1934 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er der KPD-Funktionärsgruppe um Herbert Wehner und Erich Honecker angehörte. Von 1936 bis 1939 kämpfte Lichtenstein im Spanischen Bürgerkrieg an der Seite von Kommunisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er für die KPD in den Düsseldorfer Landtag ein. Doch schon bald zweifelte die Parteispitze an seiner Linientreue. Er wurde als „Verräter“ aus der KPD ausgeschlossen. Die Stelle als Journalist bei der Westfälischen Rundschau war für Lichtenstein so etwas wie ein Neuanfang.
Laut seiner Frau Gertrud war die Reportage-Reise entlang der Grenze Lichtensteins „persönlicher Wunsch“. Er wollte eine umfangreiche Artikel-Serie über das Leben an und mit der Grenze schreiben, über auseinandergerissen Dörfer und Familien, über die Volkspolizei, die Nationale Volksarmee der DDR und den Bundesgrenzschutz.
Der mittlerweile verstorbene Lichtenstein-Biograf, der Dortmunder Journalist Rainer Zunder, hat anhand von Original-Dokumenten und Protokollen rekonstruiert, was zu dieser Zeit geschah. Er war der Ansicht, dass Lichtenstein möglicherweise auf Befehl gezielt erschossen wurde. Lichtenstein habe keine Ahnung von einer möglichen Bedrohung gehabt, schreibt Zunder. Er habe diese Reise aufgrund seiner eigenen Erfahrungen machen wollen. „Er wollte wissen, was die Teilung mit einem Menschen macht.“
Am vierten Tag seiner Reise gelangt Lichtenstein also nach Zicherie. Das sogenannte Doppeldorf war bis zur Teilung mit dem ostdeutschen Ort Böckwitz verbunden. Die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt verläuft auch heute zwischen beiden Dörfern. Lichtenstein notiert in seinen Spiralblock: „Straßen und Bahnen sind zerschnitten, Deutschland wird zerstückelt. Sie bewachen ihr eigenes KZ.“
Die beiden DDR-Grenzposten bemerkt Lichtenstein wohl erst, als die Landarbeiter ihm etwas zurufen. Mit erhobenen Armen läuft er zurück in Richtung seines Wagens. Schüsse fallen und treffen ihn an der Hüfte und am Bauch. Auch sein Auto wird getroffen. Lichtenstein wird auf die ostdeutsche Seite gezogen. Immer wieder ruft er laut Zeugenangaben um Hilfe. Am Feldrand muss er mehr als eine Stunde auf einen Krankentransport warten. Der bringt ihn in ein Krankenhaus, wo er wenig später stirbt. Er hinterlässt seine Frau und zwei Töchter. Er wird noch in Ostdeutschland eingeäschert. Die Urne wird der Witwe Wochen später per Post zugesandt.
Freisprüche im Mauerschützen-Prozess
1997 beschäftigt sich die Staatsanwaltschaft Stendal mit dem Fall. Im längsten Mauerschützen-Prozess mit 23 Verhandlungstagen kommt es zu einem Freispruch für die beiden Grenzsoldaten und ihren Vorgesetzten. Den zur Tatzeit 18 und 19 Jahre alten DDR-Grenzposten sei eine Tötungsabsicht nicht nachzuweisen, erklärt der Richter. Zudem habe nicht geklärt werden können, wer die tödlichen Schüsse abgegeben habe. Es gelte „Im Zweifel für den Angeklagten“. Die Frage, ob Lichtenstein als „Verräter“ des kommunistischen Regimes mutwillig hingerichtet wurde, kam vor Gericht nicht zur Sprache. Biograf Rainer Zunder lässt es in seinem Buch offen, ob Lichtensteins Tod „ein im Automatismus des Schießbefehls erfolgter Totschlag oder aber die politisch motivierte Liquidierung eines Renegaten war“.
Heute verbindet wieder eine Straße das ehemalige Doppeldorf Zicherie-Böckwitz. Immer noch erkennt man den zehn Meter breiten geharkten Grenzstreifen, den ein Bauer des Dorfes pflegt. An der Straße, zwischen ein paar Birken, erinnern ein Kreuz und eine Gedenktafel an das Geschehene: „Ein Deutscher von Deutschen erschossen“.