Ruhrgebiet. In vielen Kitas fehlt es trotz des Ausbaus der Plätze an Personal. Welche Folgen das für Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Kinder hat.

Dicke Krokodilstränen kullern über Emils Gesicht als Julia sich noch einmal umdreht, ein letztes Mal freudestrahlend winkt. Der Zweijährige hat sich noch nicht daran gewöhnt, dass Mama wieder arbeiten, er in die Kita muss. Für Hunderttausende Kinder in Nordrhein-Westfalen hat im August das neue Kindergartenjahr begonnen. Eine herausfordernde Zeit für die Erzieherinnen und Erzieher – nicht wegen Emil, der hat längst die Bauklötze entdeckt. Sondern weil den Kindertagesstätten die Kräfte fehlen.

„Wir kämpfen mit einem Personalmangel“, sagt Heike Wallis-van der Heide, bei der Awo zuständig für den Bereich Kinder und Familie. Zwar erfülle man in den Einrichtungen im Ennepe-Ruhr-Kreis die gesetzlichen Mindestanforderungen. Dieses Mindestmaß, abhängig von Gruppengröße, Alter und Betreuungszeit, sei aber „nicht so üppig“, dass damit auch Ausfälle durch Krankheit oder Urlaub aufgefangen werden könnten. Hinzu komme, dass für schwangere Kolleginnen mit dem positiven Test ein Beschäftigungsverbot gilt. „Die Stelle ist ad hoc unbesetzt“, sagt Wallis-van der Heide.

Personalmangel in Kitas: „Es ist zu wenig ausgebildet worden“

In den 32 Einrichtungen der Awo im EN-Kreis sind derzeit 38 Stellen frei, darunter sowohl Voll- als auch Teilzeitstellen. Neben Fachkräften, etwa staatlich anerkannten Erzieherinnen, Kindheitspädagogen oder Erziehungswissenschaftlerinnen, kann zusätzliches Personal, sogenannte Ergänzungskräfte, als Unterstützung eingestellt werden. Dazu zählen zum Beispiel Kinderpflegerinnen und Heilerziehungshelfer. Auch Pädagogik- oder Grundschullehramtsstudenten, die eine Mindestanzahl an Credit Points vorweisen können, dürfen in den Kitas aushelfen. Doch es gebe kaum Bewerbungen, bedauert Heike Wallis-van der Heide. „Es ist zu wenig ausgebildet worden.“

Dass Personal fehlt, zeige sich vor allem jetzt, in der Eingewöhnungsphase. Die Kinder, die neu in der Einrichtung sind, benötigten besonders viel Aufmerksamkeit, so die Awo-Bereichsleiterin. Erzieherinnen und Erziehern fehle dafür oft die Zeit. Auch Kleingruppenangebote wie Waldspaziergänge, Forschungsprojekte oder das Einkaufen auf dem Wochenmarkt könnten mit wachsendem Personalmangel wegfallen, befürchtet Wallis-van der Heide. Es sei dann nicht mehr möglich, die Gruppe zu teilen und Ausflüge mit weniger Kindern zu unternehmen. Aber auch Elternabende, Fortbildungsangebote für Mütter und Väter oder Sommerfeste seien irgendwann nicht mehr zu stemmen.

Erzieherinnen zeigen enormes Engagement, damit Kinder nicht leiden

Auch der Kita Zweckverband mit Sitz in Essen spürt den Fachkräftemangel. In seinen 256 Einrichtungen im Ruhrgebiet und Sauerland, in denen über 16.000 Kinder betreut werden, sind aktuell rund 120 Stellen unbesetzt. „Das Interesse an Kita-Plätzen ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Der U3-Bereich wurde enorm ausgebaut und Kinder werden zunehmend bis in den Nachmittag hinein betreut“, sagt Anne Berger, kaufmännische Leiterin. Für das Personal vor Ort bedeute der Mangel eine enorme Kraftanstrengung. Die Erzieherinnen und Erzieher zeigten großes Engagement, damit nicht die Kinder unter der Situation leiden.

Und die Lage spitzt sich weiter zu. Die Bertelsmann-Stiftung prognostiziert bis 2030 einen bundesweiten Mangel von 230.000 Erzieherinnen und Erziehern. Gleichzeitig steigt der Betreuungsbedarf. So sind nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung im vergangenen Jahr 151.736 und damit 29 Prozent der Unter-Dreijährige in NRW in einer Kita betreut worden. 48 Prozent der Eltern von Kindern dieser Altersgruppe wünschen sich einen Kitaplatz.

„Die Familiensysteme haben sich geändert“, begründet Awo-Bereichsleiterin Heike Wallis-van der Heide. Ein Gehalt reiche oft nicht mehr aus. Nach einem Jahr Elternzeit müssten Mütter und Väter oft wieder arbeiten. Fast jede Kita in NRW habe daher mittlerweile eine Gruppe für Unter-Dreijährige. „Für die Kinder ist das toll“, sagt Wallis-van der Heide. Der Kontakt mit gleichaltrigen und älteren Kinder fördere das Sozialverhalten und sei gut für die Entwicklung. Bei der Personalausstattung habe sich dagegen wenig getan: Der Ausbau der U3-Plätze habe keinen Ausbau der Ausbildungsplätze zur Folge gehabt.

„Es ist nicht nur das bisschen Spielen, Singen und Klaschen“

„Es ist nicht nur das bisschen Spielen, Singen und Klaschen“, sagt Wallis-van der Heide. Die Entwicklungsförderung der Kinder, die Dokumentation, Gespräche mit den Eltern: „Wir haben einen Bildungsauftrag.“ Hinzu komme, dass in fast jeder Kita Kinder mit Behinderung betreut würden. Das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) sehe dafür zusätzliche Personalstunden vor. „Das heißt aber nicht, dass diese Stellen auch besetzt werden können“, sagt Wallis van der Heide. So seien die Stellen oft auf die Betreuungsdauer der Kinder befristet – und dementsprechend unattraktiv.

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Um dem Personalmangel entgegenzuwirken, hat das Land NRW eine Ausbildungsoffensive gestartet. So haben die rund 5000 neu eingestellten Alltagshelferinnen und -helfer, die in der Pandemie die pädagogischen Fachkräfte insbesondere bei der Einhaltung der Hygienemaßnahmen unterstützt haben, die Möglichkeit, sich innerhalb einer zweijährigen Ausbildung zu staatlich geprüften Kinderpflegern weiterzubilden. Das vom Land geförderte Alltagshelfer-Programm lief Ende Juli aus.

„Über das Alltagshelfer-Programm konnten viele Menschen für die Arbeit im Elementarbereich begeistert werden“, freut sich Anne Berger über 21 zusätzliche Auszubildende in diesem Jahr. Es sei wichtig, diese Menschen, die in der Pandemie gezeigt hätten, dass sie Spaß an der Arbeit mit Kindern und den richtigen Ansatz haben, auch langfristig zu binden. „Wir möchten dem Personalmangel entgegenwirken und nicht darauf warten, dass die Fachkräfte irgendwo herkommen.“ Die Ausbildungsoffensive sei ein erster Schritt in die richtige Richtung.