Bochum. Beim Camping riss plötzlich Lothar Brummels Hauptschlagader. Bochumer Ärzte retteten das Leben des 66-Jährigen mit einer innovativen OP-Technik.

Dreimal schon hat Lothar Brummels Enkelin an diesem Morgen im Krankenhaus angerufen, dabei ist es gerade neun. „Opa, wann kommst du endlich nach Hause“, wollte die Zweijährige wissen. „Heute“, konnte der 66-Jährige ihr sagen. Dass er es konnte: gleicht einem Wunder. Denn am 11. Juni riss im Brustkorb des Mannes aus Versmold die Hauptschlagader, ganz plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung. Jeder zweite von einer solchen akuten Aortendissektion Betroffene erreicht nicht einmal mehr lebend das Krankenhaus. Drei von vier sterben innerhalb von 48 Stunden.

Der 11. Juni, erinnert sich Lothar Brummel, war ein heißer, unbeschwerter Tag. Eine halbe Woche schon stand sein Reisemobil da auf einem Campingplatz an der Ruhr in Hattingen. Zusammen mit seiner Frau wollte der sportliche Rentner 14 Tage Urlaub im Revier machen: ein bisschen Sonne tanken, viel Rad fahren vor allem, der Ruhrtalradweg führt direkt über den Campingplatz. Der Schmerz traf ihn aus heiterem Himmel, „wie ein Dolchstoß“, kurz vor Mitternacht -- im Rücken zwischen den Schulterblättern. „Ich wusste sofort“, sagt der frühere Autoverkäufer, „das ist ernst“. Brummel hat einiges an üblen Erfahrungen hinter sich, von Hirnblutung bis Beckenbruch. Doch noch heute, wenn er davon erzählt, merkt man, wie einzigartig diese gewesen sein muss.

„Wühlblutung“ in den Gefäßwänden klemmt die eigentliche Durchblutung ab

Lothar Brummel packt: Nach nicht einmal zwei Wochen kann er das Bochumer Bergmannsheil wieder verlassen und heim – zu Garten und Enkeln. „Auf einen richtigen guten Kaffee“ freut er sich am meisten.
Lothar Brummel packt: Nach nicht einmal zwei Wochen kann er das Bochumer Bergmannsheil wieder verlassen und heim – zu Garten und Enkeln. „Auf einen richtigen guten Kaffee“ freut er sich am meisten. © FUNKE Foto Services | Kim Kanert

Als der Rettungssanitäter eintraf, fragte er: Wie schlimm sind Ihre Schmerzen, gemessen auf einer Skala von eins bis zehn? „Bei 20“, antwortete Brummel. Er weiß noch, wie glücklich er war, als der Sanitäter darauf sagte, er nähme ihn wohl besser mit. Dann setzt seine Erinnerung aus.

Bei einer Aortendissektion reißt die innere der drei Wände der größten, zentralen Arterie im menschlichen Körper, erklärt Prof. Justus Strauch, Direktor der Universitätsklinik für Herz-Thorax-Chirurgie im Bochumer „Bergmannsheil“. Das Herz pumpt mit hohem Druck weiter, das aus dem Riss strömende Blut „wühle“ sich dann in die Gefäßwand und immer weiter vor, drücke dabei die „richtige“ Durchblutung ab. Schlaganfall, Herzinfarkt oder Querschnittslähmung könnten daraus resultieren. Eine Aortendissektion vom Typ A, wie sie Lothar Brummel erlebte, eine im aufsteigenden Ast der Hauptschlagader, ist lebensgefährlich, einer der dringendsten Notfälle in der Medizin überhaupt.

Für die Operation wird der Körper auf 26 Grad herunter gekühlt

Der Camper aus Versmold landete in jener Nacht auf dem Tisch von Oberarzt Dr. Peter-Lukas Haldenwang im Hybrid-Operationssaal des Bergmannsheils. Der ist hygienisch ausstattet für komplizierte Eingriffe auch im geöffneten Brustkorb und technisch wie ein Herz-Katheter-Labor. Denn der Herz-Thorax-Chirurg entschied sich für eine neuartige OP-Methode, eben: ein Hybrid-Verfahren, das im Bergmannsheil niemals zuvor probiert worden war. Es ist schonender für den Patienten – und spart Zeit: Die Sterberate bei Aortendissektion steigt ohne erfolgreiche Therapie noch in der Klinik pro Stunde um weitere zwei Prozent. „Wir haben“, sagt Haldenwang, „die Aufklärung vor dem Eingriff sehr kurz gehalten…“.

Peter-Lukas Haldenwang, Lothar Brumme und Justus Strauch stehen am Mittwoch, den 23. Juni 2021 im Bergmannsheil Krankenhaus in Bochum. Foto: Kim Kanert / FUNKE Foto Services
Peter-Lukas Haldenwang, Lothar Brumme und Justus Strauch stehen am Mittwoch, den 23. Juni 2021 im Bergmannsheil Krankenhaus in Bochum. Foto: Kim Kanert / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Kim Kanert

Sechs Stunden dauerte die Operation, über die Herz-Lungen-Maschine versetzten die Ärzte Brummel dazu in eine Art Winterschlaf, kühlten seinen Körper dafür auf 26 Grad herunter. So kommt das Hirn mit weniger Sauerstoff aus. Dann machten sie sich an die komplizierte Reparatur. Eine Gefäßprothese aus einem Goretex-Gemisch ersetzt heute den zerstörten aufsteigenden Teil von Lothar Brummels Aorta; ein „Endostent“ aus flexiblem Drahtgeflecht, das „offen-chirurgisch“ über einen Katheter in die Arterie eingeführt wurde, stabilisiert die Wandschichten im absteigenden Ast des Gefäßes und im Bereich des Aortenbogens. Sichtbar ist nur eine 35 Zentimeter lange Narbe. Noch verdeckt sie ein riesiges Pflaster, das von Hals bis Bauchnabel Brummels Brustkorb ziert. „Bei einem so schlanken Patienten: das kleinste Problem“, versichert Chefarzt Strauch.

„Ich könnte ja tot sein“

20 bis 25 Aortendissektionen landen pro Jahr im Bergmannsheil – in den wenigen anderen spezialisierten Zentren in NRW sei die Zahl ähnlich, erklärt Strauch. Die Operationen sind nie planbar, immer eine „Herausforderung“. Auch für versierte Herz-Thorax-Chirurgen, so Strauch, sei dieser Eingriff alles andere als Routine. „Zumal“, ergänzt Haldenwang, „jede Dissektion anders ist.“ Die konventionelle (chirurgische) Reparatur des Aortenbogens sei für den Patienten zudem sehr belastend, extrem aufwändig und oft „komplikationsbehaftet“. Beide Mediziner sind daher sehr froh darüber, dass mit dem innovativen Hybrid-Verfahren nun eine weitere Behandlungsoption verfügbar ist. Haldenwang sieht darin sogar „die Zukunft“.

Brummels Erinnerung setzt erst am Tag nach der OP wieder ein: als ihm sein Arzt auf der Intensivstation erklärt, was passiert ist – und er begreift, wie viel Glück er tatsächlich hatte. „Ich könnte ja tot sein“, sagt der passionierte Harley-Fahrer, der seine Maschine erst jüngst verkaufte, um mehr Zeit für Garten und Familie zu haben. Er sei, das betont er mehrfach, den Bochumer Ärzten „so dankbar“ für das, was sie für ihn getan hätten. „Alleine“, lacht er, „hätte ich es nicht geschafft.“

Keine zwei Wochen nach seinem Aortenriss darf Lothar Brummel nun wieder heim. Es werde, versichert man ihm, „nichts zurück bleiben“. Die Enkelin bekommt ihren Opa wieder.

>>>> INFO: Die Aorta

Die Aorta ist die größte Arterie des Menschen. Sie sieht aus wie ein Spazierstock, ist im oberen Brustbereich gebogen und verläuft gerade nach unten bis ins Becken. Pro Minute fließen etwa fünf Liter Blut durch sie hindurch.

Eine Aortendissektion trifft laut Prof. Justus Strauch 8 bis 15 von 100.000 Menschen jährlich. Typisch ist der „Vernichtungsschmerz“.

Hauptrisikofaktor ist Arteriosklerose, eine Verkalkung der Hauptschlagader (Folge von Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht, Rauchen…). In seltenen Fällen sind traumatische Ereignisse Auslöser, Unfälle oder Stürze etwa. Bindegewebsschwächen begünstigen einen Aortenriss.