Dorsten. . Ein 15-jähriger Dorstener zeigt seinen evangelischen Pfarrer wegen sexuellen Missbrauchs an. Seitdem ist er Opfer einer Gerüchteküche.

Dorsten, das sich „kleine Hansestadt an der Lippe“ nennt, gilt vielen als Idyll. Als Stadt, wo die Welt noch in Ordnung ist. Doch dieses Idyll kann auch die Hölle bedeuten, wenn Konflikte nicht offen angesprochen werden. Die Familie eines 15-Jährigen, der vom Pfarrer seiner evangelischen Gemeinde sexuell missbraucht worden sein soll, erlebt aktuell, wie die Gerüchteküche aus dem vermeintlichen Opfer einen Täter macht.

Denn dem Herrn Pfarrer – leutselig und beliebt – trauen viele eine solche Tat nicht zu. Und offen berichtet keine amtliche Stelle, was passiert ist.

Kirche beurlaubte den Pfarrer

Das ländliche Dorsten im nördlichen Ruhrgebiet gilt als Stadt, wo jeder jeden kennt, jeder alles über den anderen weiß. Auch deshalb brodelte die Gerüchteküche schnell, als Ende 2016 der Pfarrer, dessen engagierte Arbeit sogar Jugendliche aus anderen Gemeinden der Stadt anlockte, plötzlich sein Amt nicht mehr ausübte. Als krank galt er, als dienstunfähig. Erst später hörte man, er sei beurlaubt.

Schnell hieß es, der 60-Jährige habe einen 15-Jährigen, der sehr engagiert in der Gemeinde mitgearbeitet hatte, sexuell missbraucht. Aber ebenso schnell hieß es auch, der Pfarrer habe dem Jugendlichen bei einem Fest Bier verweigert und sei deshalb von diesem fälschlich belastet worden.

Der 15-Jährige ging mit seiner Mutter zur Polizei

Was ist tatsächlich passiert? Am 15. September ging der Jugendliche mit seiner Mutter zur Polizei und zeigte den Pfarrer an. Der habe ihn im Juni 2016 bei einer Gemeindefeier am Gesäß angefasst. Wenige Wochen später habe der Pfarrer ihn trotz der vielen Leute bei einem anderen Gemeindefest erneut angefasst, habe seine Genitalien berührt. Zuerst sei er wie gelähmt gewesen, erzählte der Jugendliche den Kripo-Beamten. Dann habe es gereicht. Er sei aufgestanden und gegangen. Den Vorfall hätten andere Gemeindemitglieder gesehen.

Das war im September. Die Kirche selbst, der sich der 15-Jährige anvertraute, riet zur Anzeige. Juristisch lief dann alles so, wie es bei Sexualdelikten oft läuft. Um vor allem dem mutmaßlichen Opfer einen öffentlichen Prozess samt Konfrontation mit dem Beschuldigten im Gerichtssaal zu ersparen, handeln alle Beteiligten einen „Deal“ aus.

Gegen 2500 Euro Geldbuße Verfahren eingestellt

So auch in diesem Fall. Das Strafverfahren wegen „sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen“ wird eingestellt. Dafür muss der Pfarrer „eine Wiedergutmachungszahlung von Euro 2500,00“ an den Teenager überweisen, schreibt Rüdiger Deckers, prominenter Düsseldorfer Verteidiger des Kirchenmannes, am 11. April 2017 an die Staatsanwaltschaft Essen. Und weiter betont Deckers für den Pfarrer: Er „erklärt, dass er sich dem Vorwurfsvorbringen“ des Jugendlichen „aus tatsächlichen Gründen nicht entgegenstellt“.

Rechtlich gilt der Pfarrer weiter als unschuldig. Es gibt keine rechtskräftige Verurteilung, er könnte das Einräumen jederzeit als „taktisches Geständnis“ und damit als nichtig darstellen. Tatsächlich stellt Deckers gegenüber der WAZ sprachliche Feinheiten heraus: „Er hat die Tat eben nicht eingeräumt, will den Jungen aber nicht angreifen. Letztlich bleibt es offen.“

Staatsanwaltschaft ging von Geständnis aus

Die Staatsanwaltschaft Essen nimmt das Schreiben des Verteidigers zum Anlass, das Strafverfahren nach §153a, Absatz 1 der Strafprozessordnung einzustellen. Sie erläutert diesen Schritt in einem Schreiben an das Opfer und interpretiert die Aussage des Pfarrers anders als der Verteidiger. Entscheidend sei, schreibt sie, dass er nicht vorbestraft ist und „das tatsächliche Geschehen eingeräumt hat“. Auch der Dorstener Rechtsanwalt Dirk Wolterstädt, der den 15-Jährigen in der Nebenklage vertrat, sagt der WAZ, der Pfarrer habe die Tat zugegeben.

Doch von solchen Aussagen weiß die Dorstener Gerüchteküche nichts. Eine Großtante des Jungen erzählt, mittlerweile werde gesagt, an den Vorwürfen sei nichts dran, weil die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt habe. An anderer Stelle ist zu hören, der Pfarrer habe gesagt, er sei sich keiner Schuld bewusst und werde „erhobenen Hauptes in meine Kirche zurückkehren“. Fakt ist: Er wohnt weiter im Pfarrhaus. Nach außen sieht es so aus, als stünde die Kirche hinter ihm. Vor allem darunter leide die Familie, sagt die Großtante: „Die Kirche lässt uns im Regen stehen. Keiner hat der Gemeinde gesagt, aus welchem Grund der Pfarrer nicht mehr am Altar steht.“

Die Kirche hat ein Disziplinarverfahren eingeleitet

„Das darf sie auch nicht“, sagt Jens Peter Iven, Sprecher der Evangelischen Kirche im Rheinland. Kein Arbeitgeber dürfe solche Vorwürfe über seinen Angestellten öffentlich machen. Die Sorge der Familie könne er verstehen. Die Kirche habe aber oft mit ihr gesprochen.

Mit der strafrechtlichen Einstellung des Verfahrens finde sich die Kirche nicht ab, stellt Iven klar: „Trotz der Einstellung wird das Disziplinarverfahren gegen den Pfarrer fortgesetzt. Das Landeskirchenamt hält es weiterhin für unumgänglich, die Beurlaubung aufrecht zu erhalten.“ Es bedürfe „einer weitergehenden Aufklärung und gegebenenfalls Ahndung“.

Familienmitglieder aus der Kirche ausgetreten

Das Disziplinarverfahren kann dauern. Bis zum Abschluss, der natürlich auch einen „Freispruch“ mit sich bringen kann, darf der Pfarrer im Pfarrhaus wohnen. Sein Gehalt kassiert er weiter.

Die Familie des Jungen klagt auch über einen Vertrauensverlust. Einige Mitglieder seien deshalb aus der Kirche ausgetreten. Fraglich, ob einmal der Wunsch des Jungen Wirklichkeit werden wird, den er bei der Polizei geäußert hatte. Vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit, dürfte es ihm dabei nicht nur um die Enttäuschung und Demütigung gegangen sein, sondern auch um die potenzielle Gefahr für andere Jugendliche: „Ich will ihn auch nicht mehr in der Kirche sehen.“