Ruhrgebiet. Die Reihenfolge der Impfberechtigten steht, und doch wurde schon mancher geimpft, der erst später dran gewesen wäre. Zahlt sich Drängeln aus?

Über-80-Jährige sollen laut Corona-Impfverordnung als erste gegen das tödliche Virus geimpft werden. Und die, die in den Kliniken direkten Kontakt zur Covid-Patienten oder anderen sehr Schwerkranken haben. Doch: erhielten schon viele eine Impfung, die erst sehr viel später an der Reihe gewesen wären. Hätten sie sich an die Regeln gehalten, die der Ethikrat vorgegeben hat. „Rücksichtslose Vordrängler“ empört sich mancher, weil Impfstoff noch Mangelware ist. Es ging doch nur um „Resteverwertung“, sagen andere – und verweisen auf die kurze Haltbarkeit der einmal aufgezogenen Spritzen.

Eugen Brysch ist sauer, aber es geht ihm nicht um Empörung. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz sagt: „Gerecht sollte es bei der Zuteilung des Impfstoffangebots zugehen. Schließlich bedroht unberechtigter Bezug Leib und Leben der Hochbetagten, Pflegebedürftigen und Schwerkranken.“ Brysch fordert Sanktionen für Verstöße gegen die Impfverordnung. Ohne liefe „jede Regelung ins Leere“. Seine Dortmunder Stiftung schlägt vor, Ordnungswidrigkeiten mit einem Bußgeld von bis zu 30.000 Euro zu ahnden und für „gewerbsmäßiges“ Handeln gar Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren zu verhängen.

Nur zur rechten Zeit am Ort? Rein zufällig gleich mit den Angehörigen?

Hennefs Bürgermeister, der erst 31 Jahre alte Mario Dahm (SPD), ist so einer, der seine Corona-Schutzimpfung schon erhalten hat. Genau wie Jörg Schmidt (57, CDU), Amtskollege in Wachtberg oder die beiden NRW-Landtagsabgeordneten Ralph Bombis (49, FDP) und Markus Wagner (56, AfD) – und viele andere, nicht nur in NRW, nicht nur Politiker; auch Klinik-Manager wurden wohl vor der Zeit bedacht, etwa im Bochumer „Augusta“,, sowie der Leiter der Neuapostolischen Kirche Westdeutschlands. Letzterer erhielt seine Impfung gleich im Januar in einem Oberhausener Altenheim. Wie alle anderen Genannten wurde er heftig dafür kritisiert. Keine Stunde sei ihm geblieben, erklärte indes der Oberhausener Heimleiter, der den Seelsorger bat zu kommen, um Nachrücker für die übrig gebliebenen Dosen des Tages zu finden. Der wertvolle Impfstoff, er wäre ja sonst verfallen.

Waren die „Drängler“ also nur zur rechten Zeit am rechten Ort? Rein zufällig mancher gar mit Angehörigen? Eine bundesweit einheitliche Regelung im Umgang mit den Impfresten fehlt. Sie wegzuwerfen, wäre Verschwendung – darin sind sich alle einig. Die mobilen Teams seien angehalten, kleinere Restmengen an Impfstoff „niedrigschwellig für Personen mit höchster Impfpriorität zu verwenden“, erläutert Marko Martic für das NRW-Gesundheitsministerium (MAGS). „Sollte auch nach Ausschöpfung dieser Vorgehensweise die Gefahr des Verfalls bestehen“, entscheide die Koordinierungsstelle der Impfzentren vor Ort über die weitere Verwendung – „welche „dem Verwurf von Impfdosen grundsätzlich vorzuziehen“, sei. Knackiger formulierte es nur Jürgen Zastrow von der Kassenärztlichen Vereinigung Köln, der jüngst im WDR betonte: „Der Impfstoff muss in den Arm!“

Impfteams arbeiten mit „Jokerlisten“ und „Geisterterminen“

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Grundsätzlich sollten vordringlich Menschen der Prioritätsstufe 1 geimpft werden, stimmt Andreas Daniel zu, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Aber die Teams der 27 Impfzentren hätten auch „Jokerlisten“, die sie abtelefonierten, wenn Not am Impfling sei. „Da stehen etwa Rettungssanitäter oder Feuerwehrleute drauf.“ Daniel glaubt allerdings nicht, dass wirklich viele Dosen „übrig“ bleiben: „Die Impfdosen werden ja nach den Einladungen bestellt, es müsste also relativ genau hinkommen“ – selbst wenn der ein oder andere Angemeldete dann doch nicht zur Impfung erscheine, weil er plötzlich krank geworden sei oder die Enkelin ihn nicht habe fahren können.

Ungenutzte Impfdosen gingen „ausschließlich“ an „Berechtigte der Kategorie 1“ erklärt Anke Widow, Sprecherin der Stadt Dortmund, die eines der größten Impfzentren des Landes koordiniert. Dazu gebe es täglich aktualisierte Nachrückerlisten. Die „no-show-Quote“ sei mit rund sechs Prozent zudem sehr gering, werde nahezu ausgeglichen durch sogenannte „Geistertermine von Menschen, die eine Terminbestätigung der KVWL erhalten haben, dem Impfzentrum aber nicht gemeldet wurden“, so Widow.

Impf-Drängler: „Unmoralische Angebote einfach ablehnen“

In Essen gehen etwaige Rest-Mengen Impfstoff an schnell greifbare Freiwillige, Mitarbeiter der Pflegeheime oder Helfer in den Impfzentren beispielsweise, berichtete kürzlich Impf-Chef Dr. Stefan Steinmetz. Ein paar „unmoralische Angebote“ habe es gegeben, räumte er ein. Er lehnte sie einfach ab. Bitte nicht drängeln, sagt man da wohl.

Hoffnungsvoll stimmt eine Nachricht von Anfang der Woche: Ihr Impfstoff, erklärten die Hersteller Biontech und Pfizer nach neuen Studien, bleibe 14 Tage lang stabil, auch wenn man ihn nur bei minus 25 bis minus 15 Grad lagere – sozusagen im Warmen. Denn bisher sollten es am besten minus 80 Grad sein – diese Vorgabe hatte die Impf-Logistik immens erschwert. „Tatsache ist, dass sich sogar die temperaturempfindlichsten Seren nach ihrer Aufbereitung noch mehrere Tage gekühlt sicher lagern lassen“, glaubt Patientenschützer Eugen Brysch. Selbst das Vakzin von Biontech/Pfizer könne, wie man nun wisse, bei Temperaturen aufbewahrt werden, „die jeder Gefrierschrank in Privathaushalten erreicht.“ Für ihn sind die Impfzentren deshalb ein „Auslaufmodell“.

Womit das Problem des Drängelns vermutlich nicht vom Tisch ist: Eugen Brysch betont schon heute, es „müsse zweifelsfrei klar sein, dass auch beim Impfangebot in der Arztpraxis die Impfverordnung gilt. Ebenso muss die Bevorzugung von Privatpatienten ausgeschlossen werden.“

>>> INFO Skepsis gegenüber Astra Zeneca

Unter 65-Jährige, die schon jetzt Anspruch auf eine Impfung haben, erhalten den Impfstoff des Herstellers Astra Zeneca – gegen den mancher Vorbehalte hat. Bei rund 18.000 geplanten Impfungen mit Astra Zeneca ergebe sich dennoch nur eine Absager-Quote von 3,4 Prozent, errechnete das MAGS.

Bei den beiden ersten Terminen im Dortmunder Impfzentrum, bei den Astra Zeneca etwa an Rettungsdienstler, Feuerwehrleute und Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste verimpft wurde (11. und 19. Februar) fielen nach Angaben der Stadt nur letztere auf: Von 1111 angemeldeten Pflegekräften kamen lediglich 860 tatsächlich zur Impfung (No-Show-Quote: 22,5 Prozent). „Über die Gründe können wir nichts sagen“, so die Stadt. Die Dosen der Nicht-Erschienenen seien an andere Berechtige der Prio-Gruppe 1 gegangen.