Ruhrgebiet. Ein Hundertjähriger war in Bochum der Erste, der im Impfzentrum seine Corona-Impfung bekam. Tausende alte Menschen kamen trotz des Schnees.

Da treffen sie mal den Oberbürgermeister, und dann sind sie nicht richtig angezogen: das Hemd aufgeknöpft, die Strickjacke halb ausgezogen, der linke Arm nackt. Herr und Frau Giefer aber haben sich feierlich erhoben. Dies ist die Eröffnung des Impfzentrums in Bochum, auch hier ist es bloß ein Pieks, „wie bei allen anderen Impfungen auch“, sagt Heinrich Giefer, 85. „Nur der Rummel ist größer.“

Ein ganzes Jahr haben sie gewartet auf diesen Tag, seit es Corona gibt, zwei Monate, seit das Impfzentrum eigentlich startklar war, eine Woche noch, seit es eigentlich eröffnen sollte. „Wir waren pünktlich“, Bochums OB Thomas Eiskirch kann sich die Spitze nicht verkneifen: 53 Impfzentren im Land mussten schon vor Weihnachten bereit stehen, aber dann hatte der Impfstoff gefehlt.

Essener (81) stapft zur Impfung sechs Kilometer durch den Schnee

Am Montag ist er endlich gekommen, eine Stunde später in den Ruhrcongress als geplant, eineinhalb Stunden später in Herne, mehrere in Recklinghausen, aber das lag nun am Schnee, und deshalb ist jetzt alles Freude. „Schön, dass Sie alle da sind“, sagt Eiskirch, es klingt wie bei der Eröffnung eines Büffets, und ein bisschen stimmt das auch. Knapp 200 Menschen über 80 sollen heute kommen, mehr als 11.000 in ganz NRW, die einen Termin ergattert haben, und viele kommen viel früher als nötig: Stunden vorher schon sind sie aufgebrochen durch den Schnee, vorsichtshalber, wie die alten Leute so sind. In Essen stapft der frühere Bergmann Wolfgang Assiep (81) mehr als sechs Kilometer durch den Schnee. In Bottrop wird Waltraud Albert (84) von ihrer Tochter Beate hergebracht, „notfalls hätte ich sie Huckepack getragen“. Giefers aus Bochum haben das Taxi schon am Sonntag bestellt.

Fieber messen, Berechtigung prüfen, Impfen

Bochums erster Impfling Heinz Jacoby ist stolze 100 Jahre alt. Er wurde von seiner Tochter begleitet.
Bochums erster Impfling Heinz Jacoby ist stolze 100 Jahre alt. Er wurde von seiner Tochter begleitet. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Die allererste Spritze bekommt in Bochum Heinz Jacoby, der war eine Stunde zu früh. 100 Jahre ist der Malermeister alt, Dr. Klaus Flux erwartet ihn mit dem Desinfektionsmittel in der Hand. Fieber haben sie gemessen, geprüft, ob er auch impfberechtigt ist, die Ampel an Impfstraße 3 steht auf Grün. Einmal pieksen, „etwas mehr drücken“, sagt der auch schon verrentete Notarzt in seiner Feuerwehruniform, der Patient nimmt Blutverdünner. Seine Tochter sagt, sie habe sich „sehr viel Sorgen gemacht“. Alles klar, Herr Jacoby? „War schon mal schlimmer.“ Er hat nicht einmal gezuckt.

Das macht auch Waltraud Albert in Bottrop nicht. „Ich habe nix gemerkt und auf einmal war ich schon fertig“, staunt die 84-Jährige. Bei Giefers darf die Frau zuerst, „ich bin die Jüngere“, sagt die 80-jährige Doris. Eine Nacht musste die Bochumerin nachdenken, ob sie sich überhaupt impfen lassen will, ihr Mann reckt den Arm etwas williger hin, er sei gegen alles geimpft: „Lungenentzündung, Gürtelrose und gegen die Grippe jedes Jahr.“ Heinrich Giefers hat als Schlosser am Hochofen gearbeitet, jetzt hat der das Gefühl, er tut was gegen die Pandemie, er ist zum Scherzen aufgelegt: „Einmal Muskeln zeigen.“

Am Stock durch den Schnee. Vor den Impfzentren, hier in Bochum, hatten die Städte geräumt.
Am Stock durch den Schnee. Vor den Impfzentren, hier in Bochum, hatten die Städte geräumt. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Menschen wie ihn hat Dr. Anneliese Häring-Haj Kheder gemeint. Die da jetzt kommen, sagt die medizinische Leiterin des Impfzentrums und zeigt auf die „Impflinge“, die gerade kommen, am Rollator, am Stock oder am Arm ihrer Kinder: „Die sind 1940 geboren oder früher, die haben nach dem Krieg wieder aufgebaut, die haben die Uni gegründet oder bei Opel am Band gearbeitet.“ Sie zu schützen, sei ihr Ansporn: „Bochum muss immun sein.“

Tausende Impflinge am ersten Tag

Und nicht nur Bochum. In Dortmund haben an diesem Montag 380 alleinlebende Alte einen Termin, in Mülheim erst heute 130, Oberhausen 170 Patienten, Duisburg knapp 290 – der erste war hier am Montag Willi Giesen (89), in Essen, das täglich 320 „Impflinge“ erwartet, Wolfgang Assiep, in Recklinghausen der 87-jährige Hans Hauke aus Marl, einer von knapp 400.

Gelsenkirchen hat 143 Termine vergeben, nur 17 sagen wegen des Wetters ab. Tausende sollen es werden in der ersten Woche, und dabei wohl mehr als gedacht: Täglich kommen allein im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe 4000 Termine neu in den Kalender. Ein Impfarzt berichtet, dass mancher, der erst in der vergangenen Woche das Dickicht aus überlasteter Telefonleitung und abstürzenden Internetseiten durchdrang, schon in dieser Woche dran ist. Und wer am Montag nicht kommen konnte, weil er im Schnee steckenblieb oder sich gar nicht erst hineintraute, darf seinen Termin am Dienstag oder Mittwoch nachholen.

Hoffen auf ein Leben ohne Druck und Angst

Ändern wird sich für die Geimpften indes noch nicht viel – obwohl Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen sagt: „Das Impfen ist die Tür, durch die man gehen muss, um das alte Leben wieder zu bekommen.“ Aber die Hoffnung ist groß: In Duisburg träumt Hedi Taube (82) von einem Wiedersehen mit Enkeln und Urenkeln. In Bottrop Waltraud Albert von der Hochzeit ihrer Enkelin, die sie schon dreimal verschoben haben. In Essen möchte Wolfgang Assiep, „dass der Druck jetzt weggeht“. Margret Rohsiepe (87) aus Gelsenkirchen will wieder „etwas Normalität“ – und die „große Angst“ loswerden, sich anzustecken. In Bochum hat Doris Giefers ein vorsichtiges Gefühl, „ich kann mich ein bisschen mehr bewegen“, und doch: „Ich werde nichts anders machen.“ Maske weiter tragen, nur ausnahmsweise Sohn oder Tochter sehen (niemals und), nur allein und ganz schnell einkaufen gehen. „Wir wollen ja noch ein bisschen gesund bleiben.“

>>INFO: AB MITTWOCH SIND PFLEGE- UND RETTUNGSDIENSTE DRAN

Auch am Montag gab es Klagen über verstopfte Telefon- und Internet-Leitungen bei der Vergabe von Impfterminen. Dabei stellt allein die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe täglich 4000 neue Termine in ihr System. 82 Prozent der Menschen aus der Gruppe der über 80-Jährigen, die noch zuhause leben, hätten inzwischen einen Termin, heißt es.

Ab Mittwoch werden nun auch Menschen unter 65, die bei Pflege- und Rettungsdiensten beschäftigt sind, geimpft. Die Terminvergabe organisieren die Kommunen, geimpft wird mit dem Impfstoff der Firma Astra Zeneca, der für Ältere nicht zugelassen ist. Allein in Bochum werden bis Ende März 3000 Dosen erwartet.