Ruhrgebiet. In Mülheim war Helga Schneider (91) die erste, die gegen Corona geimpft wurde. Auch andere Revier-Städte legten am Sonntag los.

Es ist das Foto des Tages, das Bild, das von diesem 27. Dezember 2020, der ein dritter Weihnachtstag ist, in Erinnerung bleiben wird: eine alte Frau in einem Seniorenheim, der Ärmel hochgekrempelt, eine Maske im Gesicht, die Spritze angesetzt am Oberarm. Die Impfungen gegen das Corona-Virus haben auch im Ruhrgebiet begonnen.

Helga Schneider in Mülheim hat sich nicht aufhalten lassen. Noch am Morgen hat ihre Nichte angerufen in der Senioreneinrichtung St. Christophorus: „Lass das nicht mit dir machen“, sonst bist du jetzt schon tot“, habe sie gesagt. Doch die resolute 91-Jährige ist entschlossen, jetzt wird geimpft, und die 91-Jährige wird in ihrer Stadt die erste sein: „So lang das Ding nicht in den Po muss, ist alles gut“, sagt sie lachend und gibt sich pragmatisch: „Was dabei rauskommt, werden wir sehen.“ Gleich nach Helga Schneider bekommt Ehemann Heinrich seine Spritze. Der 85-Jährige sagt, das sei ein „Privileg“. Und wehgetan hat der Piekser auch nicht.

Polizei eskortiert die wertvolle Fracht nach Bochum

Es ist zwanzig vor zehn an diesem historischen Morgen, anderswo haben alte Menschen ihre erste Impfung da schon hinter sich, und fast überall ist es ein trubeliges Ereignis: Bürgermeister kommen, Stadtdirektoren, Minister gar und Fotografen, man könnte schon zweifeln wegen der Corona-Regeln, ist das eigentlich erlaubt? In Dortmund oder Essen haben sie auch deshalb lieber geschwiegen über Ort und Zeit der ersten Injektionen. Auch, wo das Vakzin lagert, wird ja nicht verraten. Es bestehe schon wegen Weihnachten „bereits genug Aufregung, Organisationsaufwand und Ansteckungsrisiko“ in den Pflegeeinrichtungen, heißt es in Dortmund, Bochum verlegt den Pressetermin zum Impfauftakt vor die Tür des „Hauses an der Grabelohstraße“, ein Polizeiwagen hat die kostbare Fracht eskortiert.

In Mülheim sind zwei Impfteams in zwei Einrichtungen unterwegs; sie mischen den von minus 70 Grad auf Kühlschranktemperatur „erwärmten“ Impfstoff, am Morgen aus einem geheimen Lager in Düsseldorf herangekarrt, mit Kochsalzlösung und fangen an. „Das Schwierigste“, sagt in Bochum die Ärztin Dr. Katharina Härterich, „ist die Herstellung der fünf Impfdosen aus einer Ampulle.“ 180 Dosen soll jede Stadt im ersten Schwung bekommen haben, die allererste kriegt am sehr frühen Sonntag die 95-jährige Erika Löwer in Siegen.

Die Impfung "hat überhaupt nicht wehgetan"

Bochum verteilt die Lieferung auf zwei Einrichtungen, am Morgen wird die erste von 81 Bewohnern im „Haus an der Grabelohstraße“ geimpft. Schon zur Halbzeit am Mittag meldet die Impfärztin Erfolg: „Toll, grandios, prima!“ In Oberhausen gehört Elvira Kapoth im „Haus Abendfrieden“ zu den Ersten. „Hat überhaupt nicht wehgetan“, sagt die 87-Jährige, aber sie habe auch „keine Angst gehabt“. Auch Marianne Strzeletz in Duisburg, 83 Jahre alt, freut sich: „Toi, toi, toi, und mir geht‘s gut.“ Wie sie werden die Heimbewohner des Christophoruswerks mit Regencapes und dicken Jacken im Minutentakt zu den Impf-Ärzten in den Veranstaltungssaal geschoben.

In Herne bringen sie die 88-jährige Ingrid Kötter als erste in den Speisesaal des Senioren-Wohnparks Koppenbergs Hof. Sie darf anfangen, „weil sie fit genug ist“. Essen bringt die gesamte erste Charge ins Seniorenstift Haus Berge. Amtsärztin Juliana Böttcher setzt die erste Spritze bei einer 87-Jährigen an, da ist es kurz nach 11 Uhr. Bis zum Jahresende will die Stadt 4.680 Essener in verschiedenen Einrichtungen geimpft haben, für Mülheim gibt es 740 Rationen.

Impfarzt: "Wir müssen impfen"

Unter diesen ersten zu sein, sagt die Leiterin eines Pflegeheims im Revier, sei „schön“. Eine andere zeigt sich „überglücklich“. In Bochum findet ein dankbarer Heimleiter, das sei „schon etwas Besonderes“, in Gelsenkirchen heißt es, die Impfung sei ein „wichtiger Schritt“, allerdings sei das Virus damit noch nicht besiegt. „Wenn wir nicht fünf Jahre lang einen Lockdown haben wollen, müssen wir impfen“, sagt in Herne der Impfarzt Dr. Heinz Johann Struckhoff.

Gelsenkirchen oder Herne haben also an diesem ersten Tag die gesamten 180 ersten Dosen verimpft. In Mülheim geben die Impfärzte (darunter der pensionierte Arzt Peter Becker, auch schon 79) allein in St. Christophorus den Impfstoff an 49 Bewohner und 34 Mitarbeiter. Das ist indes nur die Hälfte des Personals. „Schade“, sagt der Mediziner Dr. Stephan von Lackum, „das ist viel zu wenig.“ Auch in Essen wollen sich am Sonntag nur 54 von 120 Mitarbeitern impfen lassen. Um keine der wertvollen Dosen wegwerfen zu müssen, die ohne extreme Kühlung nicht haltbar sind, werden kurzerhand 24 Feuerwehrleute bedacht. Dabei sei doch die Impfung, glaubt Dr. von Lackum, „ein Befreiungsschlag für die Seele“.

>>INFO: SO GEHT ES WEITER

Bereits am Montag soll eine weitere Lieferung mit 131.625 Impfdosen in NRW eintreffen, am Mittwoch kommen noch einmal 141.375 und danach wöchentlich ebenso viele.

Einzelne Einrichtungen im Revier beginnen erst heute mit den Impfungen, innerhalb von drei Wochen müssen die ersten Impflinge ihre zweite Injektion erhalten. Unklar ist, wann die 53 Impfzentren an den Start gehen.