Ruhrgebiet. Experten versuchen, Pandemie-Szenarien vorherzusagen. Ihre Computersimulationen kommen zu dem Schluss: Ein „Weiter so“ genügt nicht.
Zum zweiten Mal in kürzester Zeit hat die Politik den Lockdown verlängert – man fährt auf Sicht. Vorhersagen zur Pandemie-Entwicklung sind schwierig, einige Fachleute versuchen es. Sie sagen: Wenn Regeln oder Verhalten sich nicht ändern, wird auch die Verlängerung nicht genügen.
Ist es realistisch, das Inzidenzziel 50 bis Weihnachten zu erreichen?
Um die aktuelle Covid-Welle noch vor Weihnachten zu brechen, wären umgehend harte Maßnahmen erforderlich, hat eine Computersimulation des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung mit der Uni Bonn gezeigt. Eine Option wären Wechselklassen und digitaler Fernunterricht, erklärt Studienleiter Andreas Peichl. „Das Problem ist nur, dass wir den Sommer verschlafen haben.“ Nur die wenigsten Schulen seien vorbereitet auf Fernunterricht. Der gehe vor allem zu Lasten der schwächeren Schüler. „Das könnte Deutschland langfristig großen Schaden zufügen“ und sollte in der Breite nur „das letzte Mittel“ sein. Allerdings sollte man auf digitale und flexible Schulmodelle setzen, wo es geht.
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Auch ein harter Lockdown wie im Frühjahr, wäre eine Option – ohne dass man bei den Schulen eingreifen müsste. Damals durften nur Supermärkte und andere systemrelevante Geschäfte öffnen. Gehe jedoch alles weiter wie bisher, würde der deutschlandweite Inzidenzwert bis zum Fest nicht unter 75 fallen.
Kam der Lockdown zu spät?
Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich hält es ebenfalls für „ausgeschlossen, dass wir vor Weihnachten weit genug runterkommen.“ Auch er hat ein Computermodell mitentwickelt, mit dem sich Pandemie-Szenarien simulieren lassen . „Im Sommer hätte man die Kurve bei deutlich niedrigeren Inzidenzen kriegen können. Aber wie viel Akzeptanz hätte ein so frühes hartes Durchgreifen gehabt?“ Tatsächlich hat der rasante Anstieg auch den Forscher überrascht. Es gab solche Berechnungen, „aber das waren für uns Extremszenarien.“
Was bringt nun die Verlängerung des Lockdowns?
Andreas Peichl befürchtet, dass die Verlängerung der jetzigen Lockdown-Regeln nicht ausreicht, um nach dem 10. Januar auch nur das Vorweihnachtsniveau zu erreichen. „Es hängt natürlich vom Verhalten der Leute ab. Wenn alle brav zuhause bleiben oder wenn man nur die gleichen Familienmitglieder trifft wie sonst auch, wäre Weihnachten kein Problem.“ Doch wie realistisch ist das? Peichl glaubt, dass eine Verlängerung der Maßnahmen bis in den März hinein droht.
Auch Fuhrmann sagt: „ Die dritte Welle ist nicht unvermeidbar. Aber sie ist so gut wie sicher, wenn wir den Lockdown so gestalten wie bisher.“ Auf das Verhalten der Menschen komme es an.
Verspielt man an Weihnachten und Silvester das Gewonnene?
„Die Intention der Politik war und ist es, die Infektionszahlen bis Ende Dezember zu reduzieren, um dann quasi als „Belohnung“ Weihnachts- und Silvesterfeiern zu erlauben“, sagt Jochen Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen. Solche Regelungen „gefährden die Glaubwürdigkeit der Kommunikationspolitik in der Pandemie. Bei den Bürgern herrscht der Eindruck einer spontanen, rein anlassgetriebenen Politik vor.“
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So vermisst Jochen Werner „eine klare Strategie“, erkennt aber zugleich an: „Der exponentielle Anstieg ist gestoppt. Man sieht, wie schwer es ist, während der Wintermonate die Verbreitung des Virus einzuschränken. Das ist durchaus ein Erfolg, den wir nicht unterbewerten sollten.“ (Hier der Podcast „Chefvisite“ mit Prof. Jochen Werner)
Wie kann man einen Dauer-Lockdown vermeiden?
Peichl hat einen Vorschlag: „Die Zeit nach Weihnachten ist ohnehin wirtschaftlich ruhig, die Schulen sind weitgehend zu. Die Ferien könnte man verlängern. Wenn man Silvester opfert und die zwei Wochen nach Weihnachten nutzt, um einen harten Lockdown zu machen, wäre das sicher besser, als die jetzigen Maßnahmen bis in den März fortzusetzen.“
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„Nicht die reine Kontaktreduzierung ist das Ziel“, erklärt Jan Fuhrmann. Es komme darauf an, wie man Begegnungen gestaltet – drinnen, draußen, mit Abstand oder Maske? Sein Modell berücksichtigt diese Faktoren nur indirekt, zum Beispiel über das Wetter: Ist es warm, sinkt die Ansteckungsgefahr, ist es kalt, steigt sie. Ändern die Menschen nun ihr Verhalten, ist der Effekt ohne Erfahrungswerte kaum vorherzusagen: „Mir ist zum Beispiel keine Studie bekannt, wie groß die Gefahr der Ansteckung in einem Restaurant mit funktionierenden Hygienevorschriften ist“, sagt Fuhrmann. Auch die Datenbasis des RKI sei hier zu dünn, denn man wisse trotz Nachverfolgung zu oft nicht, wo die Menschen sich angesteckt haben.
Das ifo-Modell dagegen macht den Versuch, einzelne Maßnahmen zu bewerten, indem es die Kontakte von Bürgern anhand ihres Verhaltens simuliert. Potenzial für mehr Effizienz in den Lockdown-Maßnahmen sieht Peichl demnach bei Bus und Bahn. Diese seien oft schlicht zu voll. „Man hat dort viele zufällige Kontakte auf engem Raum. Wir müssten die Kapazitäten einschränken, mehr desinfizieren und stärker kontrollieren.“
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