Essen. Patienten, die nur so tun, als ob sie krank wären, gehören zum Medizin-Studium. Die UDE setzt sie nun erstmals bei Psychiatrie-Prüfungen ein.
Melissa Rhode ist erst 28 – doch sowas von krank: Nierensteine hatte sie schon, einen Bandscheibenvorfall, Probleme mit Augen und Ohren, diverse Meniskusschäden, jüngst erst einen schweren Unfall beim Skaten.... Ihre Lieblingskrankheit ist „akutes Abdomen“, Blinddarmentzündung. Aber heute kommt sie dem Arzt mit Magersucht – und als die 19-jährige Sina Meier. Denn Melissa Rhode litt glücklicherweise nie wirklich an all diesen Krankheiten, sie tat nur so. Als Simulationspatientin der Universität Essen/Duisburg (UDE) hilft sie, Medizinstudenten für die Arbeit als Arzt auszubilden. Das Erfolgsmodell soll zum Ende des Wintersemesters erstmals auch bei Prüfungen im Fach Psychiatrie/Psychotherapie eingesetzt werden.
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Für ihren Auftritt als Sina Meier hat Melissa Rhode sich dunkle Ringe um die Augen geschminkt und an diesem warmen Spätsommertag einen dicken Schlabberpullover übergezogen. Aber nicht nur deswegen gibt sie sehr überzeugend die Patientin mit Essstörung: Theaterpädagogin Ariane Raspe und Angelika Hiroko Fritz, die ärztliche Leiterin des Simulationspatientenprogramms (SSP) der UDE, haben sie zuvor gründlich darauf vorbereitet, gezielt geschult, mit ihr Symptome der Magersucht und typische Verhaltensmuster einstudiert. In einem Skriptbuch ist alles festgehalten, die Schauspielerin hat es auswendig gelernt.
„Ich will ja essen, aber es geht nicht“, versichert die „Magersüchtige“
Nervös zuppelt Rhode alias Meier darum nun an ihren Ärmeln, kaut an den Nägeln, zieht die Beine im Sitzen dicht an den Körper, gibt sich patzig und uneinsichtig. Alexander Fleischmann, Student im 11. Semester, übt mit ihr das „Aufnahmegespräch“. Als Assistenzarzt in der Notaufnahme stellt er sich vor. Geschickt versucht er, mit der jungen Frau „warm“ zu werden, erkundigt sich nicht nur nach deren Befinden („kraftlos“), nach Größe („1,72 Meter“) und Gewicht („31 Kilo“), sondern auch nach Studium und Hobbys; lässt sich nicht entmutigen, wenn auf seine freundlichen Fragen nur ein Schulterzucken kommt. Er bleibt verständnisvoll, als die Patientin ihm versichert, sie würde ja gerne essen, es ginge nur nicht. „Ich hab so viele Unverträglichkeiten“, sagt Sina Meier, räumt aber ein: „39 Kilo wären schön.“ Mehr nicht. „Ich will nie wieder fett sein...“. Vorsichtig erklärt Fleischmann später, wie ernst die Lage sei, dass er sie gern stationär aufnehmen würde.
Rollenspiel hinter der Spiegelwand
„Sehr zugewandt, sehr interessiert“ – Melissa Rhode lobt ihren „Arzt“ nach dem Gespräch. Ein „bisschen mehr Sozialanamnese“ hätte es aber sein dürfen: „Mir fehlten gezieltere Fragen nach Vater, Mutter und Umfeld.“ Das Feedback der Schauspielerin ist für den Studenten genauso wichtig wie das, was Professor oder Kommilitonen zu seinem Auftritt zu sagen haben. In den „Spiegelräumen“ des Lehr- und Lernzentrums der Uni, das eigens für solche Übungen gebaut wurde, können die das Rollenspiel live beobachten – ohne zu stören. Bei Polizeiverhören hat man sich die Technik abgeguckt.
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2004 warb die Uni Essen/Duisburg die ersten Simulationspatienten an – und war damit eine der ersten. Schnell wurden sie fester Bestandteil des Medizinstudiums, heute ist in Essen das SPP-Netzzentrum NRW angesiedelt, alle Medizinfakultäten des Landes tauschen sich darüber aus. 84 Schauspieler zwischen 18 und 83 gehören zum Essener Pool, Folkwang-Studenten, professionelle Theater-Darsteller, Talente aus der freien Impro-Szene wie Melissa Rhode und begabte Amateure. Über Castings wurden sie ausgewählt, der Stundensatz liegt zwischen 13 und 23 Euro. Den Profis, erzählt Theaterpädagogin Raspe, müsse man meist erst „die Bühnenkunst, große Geste, glasklare Aussprache“ abgewöhnen. „Hamlet ist krank“ ist nicht das Stück, das hier gefragt ist.
„Viele stellen aus lauter Nervosität ihrem Patienten nicht einmal vor...“
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Von der Allgemeinmedizin über die Chirurgie bis hin zu Anästhesie und Pädiatrie kommen die Schauspieler in den verschiedensten medizinischen Fachbereichen zum Einsatz. In Seminaren und bei Praxis-Prüfungen im 5. und 8. Semester. Es gibt dutzende verschiedener „Modelle“, drei Varianten des „Krebs-Darstellers“, Renitente und Quasselstrippen, Angehörige, die nerven. Kein Schauspieler darf eine Krankheit simulieren, an der oder jemand, der ihm nahe steht, leidet. (Trotzdem diagnostizierten sie hier bei einer simulierten Abdomen-Untersuchung auch schon mal einen echten, behandlungsbedürftigen Nabelbruch. Der Schauspieler wusste bis dato nur nichts davon.)
Die simulierten Untersuchungen und Gespräche brächten „Routine“, sagt Alexander Fleischmann, der gerade an seiner Doktorarbeit zum Thema sitzt. „Man gewinnt deutlich an Selbstsicherheit.“ Dass Melissa Rhode die Magersüchtige nur spielte, habe er schnell ausgeblendet. „Das vergisst man einfach, die Schauspieler kommen absolut glaubwürdig rüber.“ An die 500 angehende Ärzte hat Rhode schon erlebt – und nur wenige darunter, „die es von Anfang an im Blut hatten“. „Dass jemand auf Anhieb gut strukturiert und empathisch auftritt, sich nicht verhaspelt und an alles denkt – das ist selten.“ Perfekte Theoretiker, die vergessen sich vorzustellen, und schwitzige, eiskalte Hände sind es nicht – genauso wenig wie echtes Bauchweh nach dem 30. Studenten, der Abtasten lernen wollte.
„Üben im geschützten Raum, Fehler dürfen gemacht werden“
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Neben klinischen Untersuchungen, Aufnahme- oder Aufklärungsgesprächen üben die Studenten mit Simulationspatienten auch das Überbringen schlechter Nachrichten. „Und sie tun das in einem geschützten Raum, dürfen dabei Fehler machen. Ohne dass gleich ein wirklich Betroffener traumatisiert ist“, erklärt Programmleiterin Angelika Fritz, eine Neurochirurgin, einen weiteren Vorteil des Modells. Als sie studierte, gab es noch keine Simulationspatienten. Sie hätte gerne welche gehabt, sagt sie heute.
Für Fritz ist der Einsatz der Schauspieler bei praktischen Prüfungen auch sehr wichtig. Denn: „Empathie lässt sich nicht über Fragenkataloge bewerten.“ Zudem sei so eine bessere Vergleichbarkeit von medizinischen Prüfungen gegeben, eine „Standardisierung“ möglich. Das für die Mediziner-Prüfungen zuständige IMPP in Mainz sieht das wohl ähnlich: Es plane, künftig Simulationspatienten im dritten letzten Staatsexamen der Mediziner einzusetzen. Bislang müssen dafür noch noch echte Patienten „herhalten“ – für jeden Prüfling einen passenden zu finden, sei aber nicht leicht, sagt Fritz.
Ab Wintersemester neues Lehr- und Prüfungsformat auch in der Psychiatrie
In Essen wird es schon im kommenden Semester wenigstens eine weitere solche „OSCE“-Prüfung geben: Prof. Katja Kölkebeck, Oberärztin der LVR-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UDE, arbeitet gerade zusammen mit SPP daran. „Das Format wird die Qualität von Lehre und Studium verbessern“, hofft sie. Die Uni fördert das Projekt mit 10.000 Euro. Es geht um psychische Erkrankungen, „die besonders schwer zu simulieren“ seien, wie Fritz erklärt. „Patienten, die an Panikattacken oder Depressionen leiden, die richtigen Fragen zu stellen, ist aber ganz besonders schwer. Das muss geübt werden. Man weiß ja nie, was einen erwartet, wenn man das Patientenzimmer betritt.“
Solche Krankheiten zu simulieren, nennt Raspe, die Theaterpädagogin, eine „Charakterrolle“.
Sie selbst arbeitet übrigens längst nicht mehr als Simulationspatientin. Und muss sich doch bei privaten Arztbesuchen noch immer bremsen: „Mein wohlüberlegtes Feedback zu seinem Auftritt will mancher Doktor gar nicht hören.“
>>>> Info: Hybrid-Patienten und Statisten
Auch Maske und Fundus finden sich im Simulationspatientenprogramm der UDE. Für die Inszenierung von Massenunfällen etwa werden die „Opfer“ dort geschminkt und eingekleidet. Dabei kommen allerdings meist Statisten und keine geschulten Schauspieler zum Einsatz.
In Gynäkologie oder Urologie arbeiten die Mediziner mit „Hybrid-Patienten“, Schauspielern, denen Brüste oder Unterleibe aus Gummi angeschnallt worden, damit die Studenten auch nach Tumoren suchen oder das Anlegen eines Katheters üben können.