Bochum. Wie redet man mit Patienten, die sterben, denen eine Amputation droht oder Erblindung? Im Studium, sagen Bochumer Onkologen, lernt man das nicht.
Austherapiert. Terminal erkrankt. Palliativ zu behandeln. Worthülsen, die verbergen, was sie bedeuten: der Mensch, um den es hier geht, ist unheilbar krank, er wird sterben. Ärzte benutzen solche Phrasen dennoch. Weil ihnen die richtigen Worte fehlen, weil es schlicht schwerfällt, schlechte Nachrichten zu überbringen. Und das muss nicht einmal eine „Todesbotschaft“ sein. Keine „lebensverändernde Diagnose“ ist Patienten leicht zu vermitteln, weder die drohende Erblindung oder Amputation, noch, dass es ohne Dialyse nicht mehr gehen wird.
Doch für die Betroffenen ist es wichtig zu erfahren, wie es um sie steht. In den „Ariadne Labs“ der amerikanischen Elite-Universität Harvard wurde deswegen ein Gesprächs-Leitfaden für Mediziner in solchen Situationen entwickelt: „Serious Illness Conversation“-Guide“ heißt er, „SIC“ abgekürzt, ausgesprochen wie das englische Wort für „krank“. Onkologen der Bochumer Augusta-Kliniken „übersetzten“ ihn zusammen mit dem Würdezentrum Frankfurt für deutsche Ärzte, versuchen, ihn hier einzuführen. Seit kurzem nutzen sie SIC selbst für schwierige Gespräche mit Krebs- und Palliativpatienten. „Zukunftsdialoge“ nennen sie die.
Herr B. kennt seine Diagnose, die schlechte Prognose verdrängt er
„Wie fühlen Sie sich?“, fragt Prof. Dirk Behringer seinen Patienten, nachdem er Himbeer-Gelee-Bonbons aus einer Dose mit der Aufschrift „Seelentröster“ angeboten hat. „Ich bin in Form, es geht mir bestens“, antwortet Herr B. gut gelaunt. Bis auf „eine dusselige Erkältung“ fühle er sich wieder sehr viel wohler, die neuen Tabletten „wirken offenbar“.
Prof. Dirk Behringer, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie & Palliativmedizin, hat Herrn B. zu sich gebeten. Zukunftsdialoge finden nie spontan statt, erklärten er und sein Oberarzt Dr. Curd-David Badrakhan vor dem Treffen. Sie würden gezielt verabredet. Im Vorfeld erhielt B. Aufklärungs- und Infomaterial.
Zusammen mit seiner Frau sitzt der 83-Jährige aus Essen, der nicht wirklich B. heißt, aber fit und sehr viel jünger wirkt, seinem behandelnden Arzt nun an dessen großem Schreibtisch gegenüber. Dass Herr B. an Myelofibrose, einer chronischen Störung der blutbildenden Zellen im Knochenmarkt leidet, weiß er; auch dass er als „Hochrisikopatient“ gilt. Was er vielleicht nicht weiß oder verdrängt: Das statistische „mittlere Überleben“ der Patienten mit einer solchen Diagnose liegt, bei 50 Prozent, die Hälfte von ihnen ist ein Jahr danach tot.
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„Vielleicht will ich meine Krankheit nicht wahrhaben“, sagt Herr B., „aber ich halte das für eine große Gabe. Ich schlafe wunderbar, liege nachts nicht wach und grübele.“ „Aber ich“, sagt Frau B. leise.
„Das Handlungsbedarf da ist, war lange klar“
Das Medizinstudium, erläuterte Dr. Curd-David Badrakhan vorab, bereite nicht auf solche Gespräche vor. „Dass es Grenzen des Leistbaren gibt und was das bedeutet, war nie Thema.“ Besonders die jungen Kollegen täten sich daher schwer. „Die kommen mit Mitte 20 von der Uni und wollen heilen, tolle Ärzte werden. Und dann müssen sie dem ersten Patienten sagen, dass er nie wieder heil werden wird. Das geht schwer über die Lippen.“ In Workshops schulen sie seit Ende 2019 im Augusta die, die es wollen, für solche Situationen. Im August findet der dritte Lehrgang statt, der erste, zu dem auch „Externe“ eingeladen sind. „Früher, öfter und besser über später reden“ ist der Titel der Veranstaltung.
„Dass Handlungsbedarf da ist, war lange klar“, sagt Chefarzt Behringer. Und doch leisten die Bochumer Onkologen Pionierarbeit. Bislang werde statistisch gesehen nur mit einem von drei Patienten gesprochen, „die zeitnah eine lebenslimitierende Diagnose erhalten haben“, fand das Frankfurter Würdezentrum heraus, eine Organisation ambitionierter Palliativmediziner und palliativer Pflegekräfte. Dabei seien solche Gespräche für die weitere Behandlungs-, aber auch für die persönliche Lebensplanung von immenser Bedeutung. Doch das Thema sei „nicht salonfähig“, meint Oberarzt Badrakhan. Zu viele Mediziner glaubten zudem noch immer, ihre Patienten wollten die genaue Prognose nicht erfahren. Studien zeigen auch, dass Ärzte deren Lebenserwartung deutlich überschätzen. Um das Fünffache, hieß es noch im Februar auf dem Deutschen Krebskongress in Berlin.
„Was wissen Sie über den Stand Ihrer Erkrankung?“ Was wollen sie wissen?“, fragt Behringer. „Der Verlauf ist sehr unterschiedlich, bei früher Diagnose können viele Patienten lange weiter beschwerdefrei leben“, entgegnet B. und hält eine Broschüre hoch, verweist auf Seite 13. „Ich hab das aufmerksam gelesen, alle meine Fragen sind beantwortet.“ Dann räumt er ein, ja, er wisse, er gelte als „hoch gefährdet“. „Aber vielleicht täuschen Sie sich ja auch, Sie sind ja auch nur ein Mensch.“
Prognosen sind immer unsicher, Irrtümer sind möglich
Prognosen sind immer unsicher, erklärte der Chefarzt vor dem Gespräch mit B. Wie eine Krankheit bei einem bestimmten Menschen verlaufe, lasse sich nur schwer vorhersagen. Und, ja, tatsächlich, sei ihm das schon passiert. Dass er sich geirrt habe: Ein Patient, den er todkrank wähnte, erholte sich unerwartet und erstaunlich gut. „Seine Tochter war erschüttert, dass ich zuvor mit ihrem Vater übers Sterben geredet hatten. Der Patient selbst war dankbar dafür.“ Tatsächlich, ergänzte Oberarzt Badrakhan, seien Patienten nach dem ersten Schock fast immer dankbar, die allermeisten vor allem erleichtert, „dass endlich jemand mit ihnen geredet hat, dass die Ungewissheit vorbei ist“.
Im Gespräch mit Herrn B. wird nach und nach klar: Er will wissen, wie es weiter geht, ob ihn Schmerzen erwarten, Fieber, Schüttelfrost oder Demenz („Das wäre das grausamste!). Und letztendlich auch, wie lange er noch zu leben hat. Er mag die Frage so nur nicht formulieren. „Darf ich etwas dazu sagen?“, fragt Behringer. Herr B. nickt. „Wir hoffen, dass es noch viele Jahre gut geht, so wie es im Heft steht. Aber als Hochrisikopatient müssen Sie auch mit Veränderungen ihrer Gesundheit rechnen. Bis hin zum Sterben. Und das eher in Drei- bis Sechs-Monatsabständen als in Jahren.“ Zum ersten Mal an diesem Nachmittag folgt ein langes Schweigen.
Nicht Herumeiern, klar von Tod und Sterben sprechen
Es sei wichtig, erklärte Behringer vorab, dass Begriffe wie Sterben und Tod fallen, dass man nicht „herumeiere“. Ärzte müssen Wut und Tränen bei solchen Gesprächen aushalten können. Aber eben auch: Stille. Heißt es in den SIC-Leitlinien. Niemals sollten Mediziner mehr als die Hälfte der Redezeit für sich beanspruchen. Das Wichtigste sei ja, herauszufinden, welche Bedürfnisse und Ängste der Patient habe. Um sie berücksichtigen zu können. Gespräche wie diese, sagt der Internist Behringer, müssten geführt werden,„wie ein chirurgisches Messer, schonend und kompetent“. „Das tut manchmal weh, und es ist auch anstrengend. Aber es hilft mir, meinen Job ordentlich zu machen. So wie es der Gesetzgeber verlangt.“ Honoriert werden solche Gespräche im Gegensatz zu OPs allerdings nicht. Anders als etwa Blutabnahmen können sie nicht gesondert abgerechnet werden. Behringer nennt das „Missverhältnis der Leistungs-Gewichtung“.
„Ich fühle das im Augenblick nicht“, sagt B. nach einer Weile. „Das finde ich super“, sagt Behringer. „Wir sitzen ja heute zusammen, damit Sie eine plötzliche Krise nicht unvorbereitet trifft. Was wäre Ihnen denn im Falle einer Verschlechterung wichtig?“ Seine geistige und körperliche Beweglichkeit sei ihm sehr wichtig, sagt B. nach langem Nachdenken Und sein Haus wolle er noch „bestellen“. „Ich will nicht, dass irgendwann Fremde meine persönlichen Dinge durchforsten.“ „Wir haben noch nie über diese Dinge geredet“, sagt Frau B., die jetzt aufgehört hat, auf ihrem Stuhl hin- und her zu rutschen. „Aber ich will auch wissen, wie und wo mein Mann sterben will, wer ihn pflegen soll und wie er sich seine Beerdigung vorstellt.“
Gespräche helfen den Patienten, zu regeln, was noch zu regeln ist
Patientenverfügung- „Behandlung im Voraus planen“
Gesprächsbegleiterin Dorothee Henzler und ihr Team bieten Patienten der Augusta-Kliniken auch professionelle Hilfe beim Anfertigen oder Aktualisieren einer aussagekräftige und mit allen Beteiligten abgestimmte Patientenverfügung an.
„Behandlung im Voraus Planen“ (BVP) nennt sich das Projekt, das in Zusammenarbeit mit dem Ambulanten Ethikkomitee der Stadt entstand. Der Bedarf, so Henzler, sei „sehr groß“.
Termine für ein Beratungsgespräch können unter Telefon 0234/517-2446 vereinbart werden.
Genau deswegen nennen sie solche Gespräche „Zukunftsdialoge“. Sie sollen den Betroffenen helfen, sich vorzubereiten, rechtzeitig zu regeln, was noch zu regeln ist. Sei es, endlich eine Patientenverfügung zu machen oder das Testament. Sei es, sich einen Platz im Hospiz zu suchen oder eine ambulante Pflegebetreuung zu organisieren. Manch ein Sterbenskranker schrieb nach dem Zukunftsdialog aber auch Briefe an seine (ungeborenen) Enkel, söhnte sich noch mit einem alten Feind aus.
In fast allen Gesprächen, erläutert Oberarzt Badrakhan, gelinge es, die Angst vor unerträglichen Schmerzen zu nehmen. „Die muss niemand erdulden.“ Seit sie im Augusta Zukunftsdialoge führen würde, ergänzt er, gebe es zudem weniger „Übertherapien“: Patienten, denen klar ist, dass sie nicht mehr gesund werden können, verbringen ihre letzten Wochen eben oft lieber daheim mit der Familie oder an einem sonnigen Strand als mit der nächsten Chemo – selbst wenn die ihr Leben um ein paar Tage verlängern könnte.
Chefarzt Behringer fasst schließlich das Gespräch mit Herrn B. zusammen, fragt nach, ob er alles richtig verstanden hat, betont erneut, dass er wirklich hoffe, dass es für seinen Patienten gut laufe, noch für viele Jahre. Er entlässt Herrn und Frau B. mit ganz konkreten Ratschlägen.
„Bestellen Sie Ihr Haus jetzt! Besuchen Sie mal ein Hospiz!“
„Bestellen Sie ihr Haus jetzt! Besuchen Sie ein Hospiz! Informieren Sie sich über das Bochumer Palliativnetz! Machen Sie eine Patientenverfügung! Reden Sie mit Ihrer Frau über Ihre Wünsche! Und ich verspreche, dass wir unsere Behandlungsplanung auf das abstimmen, was Ihnen wichtig ist, dass wir Ihre Würde wahren werden.“ „Das war jetzt gut“, sagt Frau B. beim Abschied. Und ihr Mann nickt.
45 Minuten waren angesetzt für das Gespräch. B. entschuldigt sich beim Gehen noch, dass es viel länger gedauert hat. „Macht doch nichts“, sagt Prof. Behringer. „Ich bin erleichtert, dass wir so offen geredet haben.“ Erst als das Paar verschwunden ist, gesteht er, dass er schon viel zu spät dran ist – fürs nächste Gespräch mit einem anderen Patienten. Der hat Hirnmetastasen.