Westfalen. Stefan M. entschied sich als katholischer Geistlicher 2011 für seine Frau. Heute sagt er: „Die Kirche muss an ihrer Sexualmoral arbeiten.“
Stefan M. (Name geändert) erinnert sich noch gut an die Wartemarke, die er im Arbeitsamt unschlüssig in seinen Händen hielt. „Was mache ich eigentlich hier?“ habe er sich damals gefragt – zwei Tage nachdem er dem Paderborner Erzbischof erklärt hatte, dass er kein katholischer Pfarrer mehr sein kann. Er hatte sich in eine Frau verliebt, wollte das monatelange Versteckspiel beenden. Der 45-Jährige fiel sehr schnell auf harten weltlichen Boden: „Du kippst aus einer Welt raus, die völlig anders ist.“ Auch aus diesem Grund möchte M. seine Geschichte anonym erzählen, zu sehr wirbelt ihn das Geschehene auch heute noch auf.
Dabei war das Zölibat für ihn damals nur eines von vielen unüberwindbaren Hindernissen, die plötzlich zwischen ihm und „seiner“ Kirche standen. Im Stich gelassen gefühlt habe er sich schon vorher, im Jahr 2010.
Früherer Geistlicher arbeitet heute für ein Krankenhaus
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Er hatte mit seiner Gemeinde in Ostwestfalen gerade den Ostergottesdienst gefeiert, wollte danach zu Hause kurz zur Ruhe kommen. „Ich hatte mir etwas zu essen gemacht und setzte mich vor den Fernseher, wo der Papst gerade sein traditionelles Urbi et Orbi sprach“, erinnert sich M.. Ein Kardinal habe sich dann öffentlich über all die Lügen und den Schmutz beklagt, die im Zuge des Missbrauchsskandals über die katholische Kirche verbreitet würden: Eine Ignoranz, die den Katholiken bis heute sprachlos macht: „Da habe ich mich unglaublich einsam gefühlt“, erinnert sich der frühere Geistliche, der mittlerweile in der Verwaltung eines Krankenhauses arbeitet.
Schon 2010 hatte sich M. dafür stark gemacht, offensiver mit dem Thema Missbrauch in der Kirche umzugehen: Und die Täter rigoros dem weltlichen Strafrecht zu überstellen und nicht mehr in der Kirche einzusetzen. Er habe sich dennoch mitverantwortlich gefühlt für das, was dann durch Versetzungen und Gutachten aus der Öffentlichkeit heraus gehalten werden sollte. „Ich wurde immer leerer“, sagt Stefan M. heute.
Rückblick auf den Schlüsselmoment: „Ich musste einfach handeln“
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Als er schließlich seine Frau kennenlernt – ihre Tochter war bei ihm in der Kommunionvorbereitung – hatten es die starken Gefühle etwas leichter: „Innerlich hatte ich mich schon von meiner Gemeinde verabschiedet“, weiß er heute.
Einige Wochen später geht das Paar gemeinsam mit dem Kind in den Abendstunden spazieren. Als ihnen andere Passanten entgegen kommen, versteckt sich das Mädchen plötzlich hinter einem Auto. „Uns darf doch niemand zusammen sehen“, habe die Kleine zu ihm gesagt. „Das war ein Schlüsselmoment für mich“, sagt der Theologe, „wenn sich schon ein Kind Strategien ausdenkt, unsere Beziehung zu verheimlichen, dann muss ich einfach handeln.“
Entscheidung wird rasant in Kirchenrecht umgesetzt: „Es ging alles ganz schnell“
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Einige Wochen später – es ist 2011 und wieder Osterzeit – lässt er seinen Überlegungen Taten folgen. Seine heutige Frau fährt ihn zum Bischof. „Ich bin die ganze Sache sehr naiv angegangen“, sagt Stefan M., „aber für mich war die Entscheidung so klar, dass ich mir kaum Gedanken über einen Plan B für meine berufliche Laufbahn gemacht habe.“ Sein Entschluss wird mit Bedauern aufgenommen, dann aber rasant in Kirchenrecht umgesetzt. Stefan M. muss seine Pfarrwohnung so schnell wie möglich verlassen. Ihm wird empfohlen, irgendwo anders neu zu beginnen. M. aber bleibt seiner Heimatgemeinde treu, er lebt noch immer dort. „Ich zog mich damals für ein Jahr aus dem aktiven Gemeindeleben heraus, was gut war“, bilanziert er heute.
Seine Gemeinde ist zunächst traurig, dass sie ihn als Pfarrer verliert, „ich habe aber unglaublich viel Zuspruch und Verständnis erfahren“, ist er noch immer dankbar. Der Ausspruch einer 80-jährigen Dame ist ihm dabei besonders im Kopf geblieben: „Ich bin nicht sauer, dass sie sich in eine Frau verliebt haben. Aber ich bin sauer, dass sie das gesagt haben“, kommentierte sie sein Bekenntnis.
„Die Kirche muss unbedingt an ihrer Sexualmoral arbeiten“
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Für M. ist diese Aussage genau das Symptom, an dem die Kirche heute so sehr krankt: „Die Menschen sind mündig, sie wollen sich von Kirche nicht vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben“, sagt er. Das gelte insbesondere für die Sexualmoral, an der die Kirche unbedingt arbeiten müsse.
Statt vielen Predigten und dem Festhalten an einer Moral, die heute niemandem mehr zu vermitteln sei, brauche es mehr Offenheit und konkrete Taten, fordert er: „Wir müssen die Menschen wieder berühren und über so wichtige Themen wie Klimaschutz und sozialethische Fragen ansprechen.“ Und wenn Stefan M. „wir“ sagt, dann meint er die katholische Kirche, als deren Part er sich noch immer versteht. „Viele haben mir damals gesagt, ich solle doch zur evangelischen Kirche konvertieren, dort könne ich schließlich auch heiraten. Aber das wollte ich nicht: Ich bin katholisch getauft und zum Priester geweiht. Das gehört zu mir und zwar bis heute.“
Langer kirchenrechtlicher Prozess, ehe das Paar 2014 vor den Traualtar darf
Standesamtlich geben sich M. und seine Frau 2012 das Ja-Wort, erst zwei Jahre später dürfen die beiden auch vor den Traualtar treten: Ein langer, kirchenrechtlicher Prozess war dafür zuvor notwendig. Seit er selbst eine Familie habe, verstehe er vieles besser, gesteht M. ein: „Als Pfarrer gab es meistens nur Schwarz oder Weiß für mich, heute weiß ich auch um die Grautöne und kann den Alltag der Menschen besser verstehen.“
Mittlerweile ist er wieder aktives Gemeindemitglied, engagiert sich im Kirchenvorstand, dem Musikverein und der Feuerwehr vor Ort: Konkrete Taten eben, die eine Gemeinschaft ausmachen. Am Schrank in seinem Büro klebt ein Zettel. Die Wörtchen „hätte“, „könnte“, „würde“ und „müsste“ sind durchgestrichen, stattdessen steht „Machen“ mit drei Ausrufezeichen darauf. Stefan M. hofft, dass auch im Reformprozess der katholischen Kirche die Zeit der Konjunktive bald vorbei ist.