Essen. Alle Priesterakten sollen erneut durchleuchtet werden. Das allein wird nicht reichen, gesteht Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck im Interview ein.

Als „abgrundtief böse“ bezeichnet Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck die Missbrauchstaten durch Priester, für die sich die Kirche in diesen Tagen einmal mehr verantworten muss. Wie kürzlich bekannt wurde, war ein Ruhestandspfarrer trotz Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs bis 2015 jahrelang in der St.-Joseph-Gemeinde in Wattenscheid seelsorgerisch tätig. Im WAZ-Interview mit den Redakteuren Jennifer Schumacher, Christopher Onkelbach und Lutz Heuken kündigt der Ruhrbischof die erneute Aufarbeitung aller Personalakten der Priester im Bistum an – und zeigt sich auch bei anderen Themen reformbereit.

Wie stark ist das Ruhrbistum von dem Fall in Wattenscheid betroffen?

Franz-Josef Overbeck: Dieser Fall mit all seinen Verwicklungen zeigt, wohin Missbrauch führen kann, wenn Kirche nicht von Anfang an klar handelt. Und so ist er in seiner ganzen Geschichte, die die drei Diözesen Münster, Köln und Essen betrifft, ein eindrückliches Beispiel für den unverantwortlichen Umgang mit Missbrauchstätern in den eigenen Reihen.

„Kindesmissbrauch ist bagatellisiert worden. Die Opfer standen nicht im Zentrum“

Wie erklären Sie sich die jahrelange Kultur des Schweigens und Wegschauens?

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Lange hat man geglaubt, man könne dem Problem des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche mit Versetzungen oder psychologischer Begleitung Herr werden. Auch in Wattenscheid wurde ein forensisches Gutachten über den Priester angefertigt. Das ist sehr typisch: Da ein Facharzt damals dargelegt hat, dass von diesem Priester keine Gefahr mehr ausgeht, hat er als Ruheständler in der Gemeinde ohne Einspruch Dienst tun können.

Ist in der Kirche die Schwere des Verbrechens Kindesmissbrauch unterschätzt worden?

Ja, es ist bagatellisiert worden. Die

Die Missbrauchsopfer wurden von der Kirche nicht genügend, sagte Ruhrbischof Overbeck.
Die Missbrauchsopfer wurden von der Kirche nicht genügend, sagte Ruhrbischof Overbeck. © Andreas Buck | Foto: Andreas Buck

Opfer standen wenig bis gar nicht im Zentrum. Und es wurde unterschätzt, dass die Taten für die Opfer oft lebenslange Schäden nach sich ziehen. Auch die Täter wurden nicht richtig in den Blick genommen – sonst hätte man anhand der Persönlichkeitsstrukturen erkannt, dass sie nicht mehr für den Dienst in der Kirche in Frage kommen.

Institut in München arbeitet Akten auf

Wie geht die Kirche heute mit jemandem um, der wegen sexuellen Missbrauchs auffällig wurde?

Wir setzen ihn schlicht und ergreifend gar nicht mehr ein. Wir sorgen dafür, dass er irgendwo wohnen und leben kann; vor allem aber dass er so unter Beobachtung steht, dass er keinen Schaden mehr anrichten kann, soweit wir dafür Sorge tragen können.

Was unternimmt das Bistum, um mögliche Missbrauchstäter zu identifizieren?

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Wir haben sämtliche Personalakten des Bistums durch eine Kölner Anwaltskanzlei aufarbeiten und auf entsprechende Hinweise überprüfen lassen. Aktuell gehen wir einen Schritt weiter und haben nun ein wissenschaftliches Institut in München damit beauftragt, nach erneuter Durchsicht der Personalakten anhand exemplarischer Fälle nachzuvollziehen, was warum passiert ist und was nicht. Wir wollen aus alldem lernen und die persönlichen wie systemischen Schwachstellen identifizieren, die solche Vorgänge befördert haben. Und natürlich geht es dann auch um die Frage notwendiger Konsequenzen für die Zukunft, etwa, ob wir die Priester engmaschiger beruflich begleiten müssen. Oder wie unser Aus- und Fortbildungsprogramm auf solchem Hintergrund gegebenenfalls verändert werden muss. Das ist ein sehr mühsamer und langwieriger Prozess.

Ist dies eine Reaktion auf den Fall in Bochum?

Nein, das haben wir schon nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie Ende 2018 entschieden.

„Es werden weitere Taten ans Licht kommen. Davon können wir ausgehen“

Vermuten Sie in den Akten weitere Fälle?

Das kann man nicht sagen, aber ich bin sicher, dass dies nicht der letzte Fall war. Denn manche Opfer offenbaren sich erst nach Jahrzehnten. Aus meiner Arbeit als Seelsorger weiß ich, dass die Opfer ein Leben lang unter den Folgen des Missbrauchs leiden. Solche Taten sind abgrundtief böse. Es werden weitere Taten ans Licht kommen. Davon können wir ausgehen.

Die katholische Kirche in Deutschland hat einen synodalen Weg beschlossen. Was bedeutet das?

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Wir wollen vier Kernthemen bearbeiten: Ein wichtiges Thema ist die Reform der Macht- und Gewaltenteilung innerhalb der Kirche. Wir müssen Wege finden, mehr Mitbestimmung innerhalb der Kirche zu ermöglichen und dadurch einseitige Machtverhältnisse aufzuweichen. Die zweite Frage ist die nach der Sexualmoral an sich. Auf Dauer müssen wir als Kirche eine Beziehungsethik entwickeln, die tragfähig ist. Ein drittes Thema betrifft das Priesteramt und die Frage, wie es heute gelebt werden kann. Und zudem widmen wir uns der aus meiner Sicht großen kulturellen Frage des 21. Jahrhunderts: der nach der Geschlechtergerechtigkeit, der Rolle der Frau und ihren möglichen Diensten und Ämtern in der Kirche.

Vielen Menschen – vor allem Frauen – gehen die Reformbemühungen zu langsam voran. Wann werden endlich katholische Priesterinnen geweiht?

Franz-Josef Overbeck (l) im Gespräch mit Lutz Heuken, Jennifer Schumacher und Christopher Onkelbach (v.l.).
Franz-Josef Overbeck (l) im Gespräch mit Lutz Heuken, Jennifer Schumacher und Christopher Onkelbach (v.l.). © Andreas Buck | Foto: Andreas Buck

Die Begründung, warum Frauen aus dem Priesteramt ausgeschlossen sind, hat eine lange Geschichte: Wir beziehen wir uns natürlich immer auf die Bibel und unsere Tradition. Außerdem sind wir eine Weltkirche mit kulturell sehr unterschiedlichen Vorstellungen – weiter im Osten Europas etwa wäre es so gut wie undenkbar, über Frauen im Priesteramt zu sprechen. Persönlich kann es mir mittlerweile vorstellen, dass Frauen Priesterinnen werden – allerdings werde ich das wohl nicht mehr erleben. Es gibt aber noch einen Schritt davor: Dass auch Männer, die verheiratet sind, Priester werden dürfen. Das würde manchen den Weg zum Priesteramt ermöglichen.

„Es gibt einen Bruch zur jungen Generation“

Das Bistum Essen muss sparen, viele Gemeinden verlieren ihre Kirche. Wie reagieren Sie auf den Unmut der Gläubigen?

Das kirchliche Leben werden wir nicht so weiterführen können wie bisher. Viele Dinge können wir uns schlicht nicht mehr leisten. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, viele Gläubige leben ihre Religiosität nicht mehr nach den Regeln der Kirche. Es gibt einen Bruch zur jungen Generation, der nicht mehr umkehrbar ist. Das Christentum tritt in eine völlig neue Ära ein. Kirche wird zu einem fluiden System, das in viele Lebensbereiche hineinragt aber nicht mehr nur einen bestimmten Ort hat.

Das Bistum Essen ist arm, andere Bistümer schwimmen im Geld. Plädieren Sie für eine Art Finanzausgleich?

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Wir würden gerne vom Reichtum anderer Bistümer partizipieren. Aber das ist aus vielen Gründen schwierig. Es muss in Zukunft ein anderes System geben, die Mittel gerechter zu verteilen und zu helfen, sonst können wir notwendige Aufgaben in Essen bald nicht mehr in Gänze wahrnehmen. Aber momentan ist die Bereitschaft so mancher Bistümer dafür eher gering.

„Wir sind in der katholischen Kirche sehr beschäftigt, wie wir mit der Partei umgehen“

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Rechtspopulistische Parteien greifen die Kirche wegen ihrer kritischen Haltung scharf an. Ist die Politik der AfD mit den christlichen Werten vereinbar?

Da sollte man unterscheiden zwischen Anhängern, Wählern und Funktionären. Wir sind in der katholischen Kirche sehr mit der Frage beschäftigt, wie wir mit der Partei umgehen. Die Gefahr ist groß, dass politische Kräfte erstarken, die mit demokratischen Mitteln die Demokratie abschaffen wollen. Einige Vertreter der AfD scheinen unter anderem dieses Ziel zu haben.

Gibt es rote Linien im Umgang mit der Partei?

Inakzeptabel sind Angriffe auf die Menschenwürde, pauschale Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus und die Verunglimpfung anderer Religionsgemeinschaften. Wir wissen noch nicht, wie wir mit diesen Politikern öffentlich streiten können. Manche haben gar kein Interesse an einer konstruktiven Konfliktkultur. Darf man ihnen eine Bühne bieten? Solche Fragen bewegen mich sehr.

Müsste sich die Kirche nicht klarer gegen Angriffe auf demokratische und christliche Werte positionieren?

Mehrere Bischöfe aus ostdeutschen Bundesländern haben mich nach den letzten Landtagswahlen, bei denen die AfD stark abgeschnitten hat, angesprochen und gefragt: Müssen wir Bischöfe nicht etwas sagen? Manche haben an die Nazizeit und die Zeiten davor erinnert, in der die Kirche auch oftmals geschwiegen hat. Wenn die Partei weiter Auftrieb erhält und sich entsprechend weiter positioniert, könnte ich mir vorstellen, öffentlich klar Stellung zu beziehen.