Bochum. Fünf Shows gewährte Ruhr.2010 dem wilden Subkultur-Projekt Urbanatix. 145 wurden es. Bisher. Über ein Erfolgsprojekt und die Köpfe dahinter.

Die Absage kam rasch und sie kam ohne Begründung, damals im Jahr 2007, als sich der Bochumer Event-Regisseur Christian Eggert mit seinem jungen, wilden Subkultur-Projekt für „Ruhr.2010“ bewarb. Nein, danke, die Kulturhauptstadt wollte „Urbanatix“ nicht.

Aber Christian Eggert wäre nicht Christian Eggert, wenn er deswegen gleich aufgesteckt hätte. Er überzeugte Bochums damaligen Kulturdezernenten Michael Townsend, Urbanatix ohne offizielles Logo, als „Stadtprojekt“, ins Programm der Kulturhauptstadt aufzunehmen. Und machte sich an die Arbeit; mietete als erstes die entweihte, alte Marienkirche im Herzen der Stadt als Trainingsort an. Ein kluger Schachzug. Bundesweit berichteten Medien über die irren Biker, die durch die einst heiligen Hallen tobten. 2010 erreichte Christian Eggert dann ein von „Ruhr.2010“-Chef Fritz Pleitgen persönlich: Man wolle Urbanatix gern als offizielles Projekt nachnominieren. Ob noch Interesse bestünde? Um die Geschichte abzukürzen: Am Ende kamen zu den fünf zunächst geplanten Shows im Mai 2010 elf weitere im November dazu. Zwei davon kaufte „Ruhr.2010“ komplett auf: als Dankeschön-Veranstaltung für alle, die zum Gelingen des Kulturhauptstadtjahres beigetragen hatten.

Nicht alle stehen im Rampenlicht: Über die Köpfe hinter der Erfolgsgeschichte

Seither haben über 150.000 Menschen Urbanatix gesehen: in der Bochumer Jahrhunderthalle, bei der „Extraschicht“ oder den Ruhr Games, viele auch beim Sommerfestival des „Neuen Circus“ in Wolfsburg. 2017 erhielt das Projekt den Europäischen Kulturpreis „N.I.C.E“ und zehn Jahre nach der ersten Show ist aus dem Ruhrgebiet nicht mehr wegzudenken. Vom 6. bis 17. November wird Geburtstag gefeiert, der Titel der Jubiläumsshow lautet schlicht „X“ – wie 10.

Aber wieder werden dann „nur“ die Artisten im Rampenlicht stehen: Talentierte Biker, Tricker, Traceure (Parkour-Läufer), Tänzer aus der Region und gefeierte Profis aus aller Welt. Wir nehmen das Urbanatix-Jubiläum zum Anlass, fünf Menschen vorzustellen, die der Scheinwerferkegel nicht oft trifft: die Köpfe hinter der Erfolgsgeschichte:

1. Jerome Krüger (Visuelle Medien): der Mann, der Urbanantix bebildert

Da war er noch nicht im Tunnel: Die sechs letzten Wochen vor der Urbanatix-Premiere sind die schlimmsten für Jerome Krüger, den Mann, der dessen Videokunst der Show einen fantastischen Rahmen gibt.
Da war er noch nicht im Tunnel: Die sechs letzten Wochen vor der Urbanatix-Premiere sind die schlimmsten für Jerome Krüger, den Mann, der dessen Videokunst der Show einen fantastischen Rahmen gibt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Soviel sei verraten: Zum 10. Geburtstag wird Jerome Krüger in Bochums Jahrhunderthalle eine Pyramide zum Leben erwecken. Und einen Boxen-Turm. Hoffentlich. Wenn man ihn nur arbeiten ließe... Bis zur Premiere im November ist es an diesem Morgen ja nicht mehr lang hin. Zwölf bis 15 Stunden am Computer liegen ganz gewiss noch vor dem Mann, dessen offizielle Job-Beschreibung „Kreation Visuelle Medien“ lautet, und der ihn selbst so erklärt: „Ich bebildere die ganze Geschichte.“

Zwölf bis 15 Stunden sagt Krüger, und meint: täglich, klar. Nur in den letzten sechs Wochen vor der Premiere, wenn die Vor-Animationen stehen, seien es mehr. Da wechselt er auch ins Home-Office. „Ich brauche dann den Tunnel“, erklärt der 34-Jährige aus Mülheim beim Kreativmeeting von „Dacapo“, der Bochumer Agentur, die Urbanatix managt. Seit 2014 ist er dort fest angestellt, er schwärmt von der „Spielfreude“ im Team, dem „harmonischen Miteinander“ und flachen Hierarchien. „Klar gibt es auch bei uns mal Streit“, gesteht er. „Aber nur wegen akuter Übermüdung.“

Fantastische Welten für den Hintergrund

Krüger studierte Fotografie, wechselte rasch zum Bewegtbild, war zunächst viel auf Stadtfestivals unterwegs. Fünf Jahre lang leitete er später „Shiny Toys“, ein internationales Netzwerk und Festival für audiovisuelle Experimente. 2013 machte er sein erstes Video für Urbanatix, es war sein bis dahin größtes Projekt. „Eine einmalige Chance“, erinnert er sich: „30 Meter Bühnenbreite, zehn Beamer!“

Heute arbeitet Krüger komplett digital, am Ende seines Schaffens steht ein vorproduzierter Film, der während der Show auf die Bühne projiziert wird. Seine Visualisierungen sind für den Hintergrund gemacht, sie dürften die Artisten „nicht verschlucken“, aber sie gäben dem Ganzen ein „Setting“, sagt er. Vor allem aber: entführen sie den Zuschauer in fantastische Welten. Wer die „Roadtrip“- Show im vergangenen Jahr gesehen hat, erinnert sich vielleicht, dass solide Laternen im Nebel auch über den Garagen schweben können, vor denen sie eben noch standen. Und wer weiß, was so eine Lautsprecher-Box drauf hat, wenn man sie nur ins rechte Licht rückt?

„Nach der Generalprobe passiert etwas Unglaubliches“

Bei den letzten „Korrekturschleifen“ vor Ort, in den allerletzten Tagen vor Showstart, wenn die Artisten leibhaftig zu Akteuren in einem lebendem Videospiel werden, werde es für ihn noch einmal „richtig, richtig stressig“, sagt Krüger. Aber dann, nach Generalprobe und Premiere, passiere „etwas Unglaubliches: „Dann bin ich aufgabenlos.“ Sein Job ist erledigt. Bleibt ihm nur noch zu hoffen, dass der Operateur seinen Film erst abspielt, wenn das „Go“ dafür ertönt ist.

2. Takao Baba (Choreographie): Puzzeln, bis ein Ganzes entsteht

Takao Baba bei einer Urbanatix-Probe im Bochumer Trainingszentrum „Open-Space“. In seinem Rücken zeigen Artisten bereitwillig Saltos. Sollten die nicht ihre Choreo einstudieren?
Takao Baba bei einer Urbanatix-Probe im Bochumer Trainingszentrum „Open-Space“. In seinem Rücken zeigen Artisten bereitwillig Saltos. Sollten die nicht ihre Choreo einstudieren? © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Five, Six, Seven, Eight….“: Wer bei Urbanatix tanzt, hört auf Takao Babas Kommando. Auch die 15 Tänzer, die an diesem Sonntag im „Open Space“ für die Jubiläumsshow proben, tun es. Doch die Choreo sitzt noch nicht. Ein Mädchen mit lila Haaren hüpft aus der Reihe, ein schwarzer Hüne mit wallender Mähne verpasst den Einsatz. Aber das ist egal, noch ist Zeit. „Wir gehen erstmal weiter“, sagt Baba. Am Tag der Premiere wird die Choreo sitzen, weiß er. Das tat sie noch immer. Er war als Chef-Choreograph von Anfang an dabei.

„Ich mache das Konzept und puzzle dann Bausteine zu einem einheitlichen Bild zusammen“, erklärt der 1974 in Tokio geborene Mann seinen Job. Ohne Tänzer funktioniere Urbanatix nicht, der Tanz verbinde alle Nummern, bestimme den „Vibe“ Heute so wie früher. Obwohl sich ansonsten viel geändert habe: Urbanatix sei gestartet als „Sozialprojekt mit ein paar professionellen Tänzern“, erklärt Baba. Disziplin sei in den turbulenten ersten Jahren „oft Thema“ gewesen, heute nicht mehr, das Niveau sei viel höher: „Wir arbeiten mehr mit professionellen Tänzern, die selbst unterrichten und davon leben. Die Neuen lernen von denen.“ Wer undiszipliniert oder unzuverlässig sei, werde rasch „aussortiert“: Bei einer Probe unentschuldigt zu fehlen: „Geht einfach nicht“, sagt Baba. Dennoch sei Urbanatix sicher toleranter als andere Produktionen. „Wir versuchen, locker ranzugehen“. Größte Herausforderung sei derzeit: die Termine der Tänzer zu koordinieren. Es gebe inzwischen „so viele tolle Angebote“ in der Szene, was klasse sei; bloß: „Die Tänzer würden am liebsten alles machen“, stöhnt der Choreograph.

Die Produktion muss mit dem Zeitgeist gehen, sie braucht immer frischen Input

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Takao Baba lebt in Düsseldorf, arbeitete lange selbst als Tänzer, unter anderem mit den Spice Girls, und steht auch derzeit als „Affe“ in Robert Wilsons „Dschungelbuch“ auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses. Neben Urbanatix konzentriert sich der 45-Jährige heute aufs zeitgenössische Tanztheater, engagiert sich vor allem im Tanzhaus NRW. Im Oktober feierte sein Stück „Boys don’t dance“ dort Premiere Er gründete die Kompanie E-Motion, eine Art Hip-Hop-Kollektiv, und die Plattform Dance Unity zur Förderung urbaner Tanzformen, richtet regelmäßig das „Snipes Funkin’_Stylez“ aus, einen Tanzwettbewerb in der Jahrhunderthalle. „Ja, ich bin gut ausgelastet“, nickt Baba.

Mit 45 spüre er, der zweifache Familienvater, aber langsam doch „Alter und Körper“, räumt er ein: „Früher konnte ich schneller adaptieren.“ Irgendwann werde er bei Urbanatix „Jüngeren Platz machen“, die auch „anders kreativ“ seien als er. Der Deutsch-Rap aus den Charts etwa, der sei nicht sein Ding. Er stehe mehr auf „Old School“-Hip-Hop, auf Bands wie „A Tribe Called Quest“. Aber Urbanatix müsse mit dem Zeitgeist gehen, brauche „frischen Input“. Doch noch ist es zum Glück nicht soweit, der Abschied werde schwer fallen.

Er liebt die Message von Urbanatix: Kultur bringt Menschen zusammen

Was er an Urbanatix besonders liebt? „Die Message, die es transportiert und nach außen trägt“, sagt Baba und schwärmt vom „bunt zusammen gesetzten Cast“, in dem Afrikaner, Juden und Deutsche begeistert zusammen arbeiteten. Urbanatix sei stets international besetzt, aus 20 verschiedenen Ländern kamen die Aktiven bislang. „Die Politik sollte viel mehr in solche Projekte investieren, Denn Kultur bringt Menschen zusammen“, erklärt Takao Baba.

Dann ist er wieder bei seiner Truppe. Erklärt den jungen Tänzern vielleicht, dass Fehler ja gar nicht schlimm sind. Früher habe er selbst welche gemacht…. „Darf passieren“, sagt Baba. „Aber niemals aus Nachlässigkeit.“ Five, Six, Seven, Eight...

3. Jana Januschewski (Kostüme): zuständig für i-Tüpfelchen und Wodka in Sprühflaschen

Urbanatix sei der „Ruhepol“ in ihrem Leben, sagt Mode-Designerin Jana Januschewski, verantwortlich für die Kostüme der Artisten. In der Jahrhunderthalle richten sie ihr ein eigenes kleines Nähstübchen ein.
Urbanatix sei der „Ruhepol“ in ihrem Leben, sagt Mode-Designerin Jana Januschewski, verantwortlich für die Kostüme der Artisten. In der Jahrhunderthalle richten sie ihr ein eigenes kleines Nähstübchen ein. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Ihr Optimismus ist so legendär wie ihr Kostümbild: Jana Januschewski zeichnet (und näht und schneidert) verantwortlich für das Outfit der Urbanatix-Artisten. Sie nennt es „das i-Tüpfelchen“ des Erfolgs der Show. Dabei wirkt, was Tänzer, Biker oder Traceure tragen, so, als ob sie es daheim nur rasch übergeworfen hätten. „Das ist das Trickige dabei“, lacht die studierte Modedesignerin (39). Jeden einzelnen auf der Bühne authentisch zu kleiden und dabei das große Ganze im Auge zu behalten. „Funktioniert über Farbspiele im einheitlichen Spektrum“, verrät die 39-Jährige. Im letzten Jahr setzte sie für Urbanatix’ „Roadtrip“ auf Erdtöne, in diesem Jahr („Fürs Jubiläum brauchen wir mehr Glamour!“) wird’s „gold-, gelb-, himbeerfarben“.

Jana Januschewski ist seit 2010 dabei; Vorlieben und Maße der meisten Artisten kennt sie. Und die der neuen – von Kopfumfang bis Schuhgröße – erreichten sie Mitte September. Womit „24-Stunden-Arbeitstage“ begannen; 30, 40 Outfits gilt es jeweils zusammen zu stellen. „Mein Mann weiß inzwischen, dass er von September bis November die Familienarbeit allein stemmen muss“, berichtet die gebürtige Moldawierin. Sie hat in Mülheim inzwischen ein eigenes Atelier, ist kreativer Kopf des international bekannten Labels „Jot Jot“. Urbanatix sei für sie – wie viele – ein echtes „Karriere-Sprungbrett“ gewesen, glaubt sie.

Dehnbar, strapazierfähig und gemütlich

Dehnbar, strapazierfähig, atmungsaktiv und gemütlich müssten „Kostüme“ für Urbanatix sein; das Material „fließend, im Einklang mit den Körpern“. Mag ein Artist seinen Bühnen-Look nicht: ändert die Kostümbildnerin ihn. Beleidigt war sie deswegen „nur ganz am Anfang“. Dann lernte sie: „Das Gesamtprojekt ist wichtig, nicht, dass ich hier mein Ding durchzieh’.

Für die Shows richten sie Jana Januschewski in der Jahrhunderthalle eigens ein „kleines“ Nähstübchen ein: mit Näh-, Kettel- und Waschmaschine, Trockner, Bügelanlage, Scheren, Garnen – halt allem, was frau so braucht, wenn die Jungs und Mädels auf der Bühne sich mal wieder so richtig austoben. Immer dabei: „Wodka in der Sprühflasche“, erzählt Januschewski. „Zieht den Geruch raus.“ Falls zwischen den Doppelshows mal keine Zeit zum Waschen bleibt“.

„Urbanatix ist mein Ruhepol in einer Welt voller Shit“

Und wenn der ganze Trubel, der ganze Stress dann vorbei ist, am 17. November: Dann wird Jana Januschewski sich schon wieder freuen aufs nächste Jahr. „Urbanatix“, sagt sie, „ist für mich ein Ruhepol in dieser Welt, in der gerade so viel Shit los ist.“

4. Christian Eggert (Regie und Projektleitung): der Mann, der alle Fäden zusammenhält

Christian Eggert an der Bochumer Jahrhunderthalle. Hier brachte er sein „Herzensprojekt“ Urbanatix vor zehn Jahren erstmals auf die Bühne. Hier wird im November auch Geburtstag gefeiert, mit 16 neuen Shows.
Christian Eggert an der Bochumer Jahrhunderthalle. Hier brachte er sein „Herzensprojekt“ Urbanatix vor zehn Jahren erstmals auf die Bühne. Hier wird im November auch Geburtstag gefeiert, mit 16 neuen Shows. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Pfingsten, dachte Christian Eggert damals, wäre alles vorbei. 2010 war das, kurz vor der allerersten Generalprobe seines Babys, Urbanatix. Der Ticketverkauf für die Mitternachtsshows lief mehr als schleppend und richtig rund sowieso nur wenig. Die Techniker hatten dem Urbanatix-Erfinder gerade erneut versichert: „Das wird nix!“ Diese undisziplinierten, unerfahrenen Artisten, die er da auf den Straßen des Reviers aufgesammelt habe, sagten sie, die würden in der Show niemals da sein, wo das Licht wäre. Und schon gar nicht zur selben Zeit. Seltsamerweise: Waren sie es.

Trotzdem stand Eggert bei der Premiere am 21. Mai mit schweißnassen Händen im Dunkeln, als die Biker zum ersten Mal kreuz und quer über die Bühne flogen. Sein Sohn, gerade 16, war einer von ihnen. Es ging alles gut, das Publikum in der ausverkauften Halle applaudierte stehend und nach der Show übernachtete die komplette Urbanatix-Mannschaft in einem improvisierten Feldbettenlager in der Jahrhunderthalle.

Und Pfingsten war keineswegs alles vorbei. Ist es zehn Jahre später noch nicht.

Erst einmal gab es einen schlimmen Unfall

„Dabei war Urbanatix wirklich nur als Projekt angedacht“, beteuert Christian Eggert. Aber womöglich war es von Anfang an das „Herzensprojekt“ des heute 55-Jährigen, der seit 30 Jahren kreativer Motor der Bochumer Agentur Dacapo ist. In jeder Show ist der gelernte Zimmermann als „Caller“ vor Ort, er gibt den Artisten ihre Einsatzbefehle. Um schnell reagieren zu können, wenn sich mal ein Requisit verhake, oder ein Videobild nicht kommen, müsse man die Show gut kennen, erklärt Eggert. „Ein falsches Kommando und im Dunkeln treffen sich zwei.“ Dabei ist tatsächlich (und zum Erstaunen aller, die jemals dabei waren) während all der Shows in der Jahrhunderthalle noch nie etwas Ernstes passiert. Nur einmal – bei einem Auftritt im Rahmen der Extraschicht im Gelsenkirchener Nordsternpark – brach sich ein Urbanatix-Artist auf dem Schleuderbrett ein Bein. „Zu nah an der Sonne geflogen“, sagt Eggert leise und gesteht, dass ihm jener Unfall sehr lange nachhing.

Urbanatix ist Teamwork, und Christian Eggerts Jobs der „die Fäden zusammenzuhalten“, „auf die kreativen Köpfe um mich zu hören“, wie er bescheiden erklärt. Ständig ist der Mann auf der Suche nach Inspirationen und Künstlern für seine Show, man trifft ihn auf allen wichtigen Zirkusfestivals, in Paris, Budapest, Basel oder Montreal etwa, aber auch auf den Straßen des Reviers. Es gebe keinen Tag, sagt der Bochumer, an dem er nicht an Urbanatix denke. „Man mus das leben wollen.“ Er will, weil es sich lohne. Die Proben seien für ihn „Lebensquell“ und jeden Abend im Finale sehe er doch „in den Gesichtern der Artisten die pure Freude.“ Bei der allerletzten Show immer auch Tränen. Denn danach muss sich die „Familie“ ja trennen.

Eggert träumt von einer Artistenschule im Ruhrgebiet

Es begeistert ihn, dass sich durch Urbanatix die „gesellschaftliche Relevanz urbaner Künste im Revier verändert hat“. „Früher erzählt Eggert, „sind die Parkour-Läufer an der Bochumer Uni von den Wachleuten verjagt worden. Heute findet man sie auf der RUB-Startseite!“ Sein größter Erfolg aber sei „Open Space“: das unter seiner Federführung aus dem Urbanatix-Projekt gewachsene Trainingszentrum in einer alten Fabrikhalle in Bochum. Seit 2015 wird dort für die Show geprobt, aber die Halle ist offen für alle aus der Szene. Anfänger treffen hier Stars – auf Augenhöhe. Es gilt das Motto „Each One Teach One“, jeder lernt von jedem. „Herkunft, sozialer Status oder der Grad an Professionalisierung“ spielen keine Rolle, heißt es auf der Homepage. „Denn uns alle verbindet eine gemeinsame Begeisterung.“

Christian Eggerts einzig unerfüllter Traum bleibt der einer Artistenschule im Revier. Ziemlich sicher: wird er noch einen Weg finden ihn zu verwirklichen.

5. Sebastian Maier (Musik): verantwortlich für wumms und adagio

Der Mann mit dem Hut: Sebastian Maier ist musikalischer Leiter des Streetart-Projekts „Urbanatix“, das im November seinen 10. Geburtstag feiert.
Der Mann mit dem Hut: Sebastian Maier ist musikalischer Leiter des Streetart-Projekts „Urbanatix“, das im November seinen 10. Geburtstag feiert. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

2009 empfahl ihn eine Agentur dem Urbanatix-Erfinder Christian Eggert. Und seither ist Sebastian Maier (39), der Mann mit dem Hut, dabei. Als musikalischer Leiter. „Ging gar nicht anders“, erklärt der gebürtige Herner. „Das ist wie eine Droge, jedes Jahr für diese Show einen neuen Soundtrack zu machen.“ Und der ist längst so was wie eines ihrer Qualitätssiegel. In diesem Jahr wird Maier seine Playlist sogar auf Spotify einstellen „müssen“ – „die Fans haben so oft danach gefragt...“

Seit sechs Jahren gibt es eine eigene „Urbanatix-Band“, dennoch ist nicht alles, was zu hören ist, Live-Musik. „Aber es wird immer mehr“, freut sich Maier. In Abstimmung mit Choreographen und Visualisten wählt Maier die Titel für die Show aus; gemeinsam entscheidet man, welcher Beat passt zu welcher Choreo, welches Lied zu welchem Bild. Er bearbeitet Songs, immer komponiert er auch eigene Stücke, studiert sie dann mit der Band ein. Er berät zudem die großen internationalen Artisten, die meist ihre eigene Musik mitbringen. „Gemeinschaftsaufgabe“ nennt Maier, was er tut. Er zehre viel vom Input der anderen. Stück für Stück entstehe so ein Ganzes.

„Der Wahnsinn, was as an Technik ineinander greift, was da alles schief gehen kann“

Urban und fresh“ will der Musiker, der auch als „zap“ bekannt ist, den Urbanatix-Sound, „bloß nicht altbacken“. Wichtig sind ihm „Bässe und die Ausgewogenheit von adagio und wumms“. Und am allerliebsten hat er die Halle vor dem Auftritt ganz für sich, „wenn da noch nix fertig ist und wir kommen rein zum Soundcheck und der Tontechniker bringt den Raum zum Schwingen: das ist der schönste Moment.“

Der schrecklichste: ist der, wenn es dann wirklich losgeht. Maier ist Inhaber und Gründer des renommierten Plattenlabels Z-Muzic und in der Szene mindestens so bekannt, wie der Sebastian Maier, der Mittelfeldspieler beim VfL Bochum ist. Seit 1998 komponiert und produziert er Electro-, Techno- und Indietronics-Projekte, unter anderem für das legendäre Label Decca; als Schlagzeuger tourt er mit der Elektropop-Formation Susanne Blech und anderen Bands durchs Land; er ist musikalischer Leiter auch des „Theater Kohlenpott“, er arbeitete für die Folkwang Universität sowie fürs Aalto-Theater. Und doch: ist Sebastian Maier bei der Premiere stets der aufgeregteste. „Jedes Mal“, behauptet er. „Das ist doch der Wahnsinn, was da an Technik alles ineinander greift, Was da alles schief gehen kann...“.

>>>> Info: Der Rest des Hinter-den-Kulissen-Teams

130 Menschen sind an der aktuellen Show beteiligt. Zum Kernteam hinter der Kulisse gehören neben den fünf auf dieser Seite Porträtierten:

Frank Hörner (Co_Regie)

Sascha Hinz (Bühnenbild)

Andrea Böge (Choreographie)

Friederike Külpmann (Ausstattung)

Andreas Jüngermann (Lichtdesign)

Basti Gies (Konzeption Parkour)

sowie Carolin Hensel-Lippold (Projektsteuerung): „Artisten-Mama“ und nach einhelliger Beteuerung aller: die Frau, ohne die bei Urbanatix gar nichts geht.

>>>>Info: Zahlen und Fakten

145 Shows bestritt Urbanatix seit Mai 2010.

150.000 Menschen haben die Shows seither gesehen.

19 Jahre alt ist die jüngste Artistin, eine Tänzerin, die in diesem Jahr dabei ist,

38 der Älteste in der Runde, ein Beatboxer.

43 Künstler stehen 2019 insgesamt auf der Bühne,

14 davon sind zum ersten Mal bei Urbanatix,

9 sind internationale Profi-Artisten.

130 Personen sind insgesamt an der aktuellen Show beteiligt.

4 Straßenkünstler sind seit der ersten Stunde dabei: Fabian Teusch, Sebastian Gies, Carlos Howard und Alexander Brockmann.

Gefeiert wird vom 6. bis zum 17. November in der Jahrhunderthalle in Bochum. Weitere Infos und Tickets für die 16 Jubiläumsshows unter urbanatix.de