Bottrop. Peter S. soll Krebsmedikamente gestreckt haben. Der Wohltäter seiner Stadt sitzt in U-Haft. Der Prozess soll Antworten auf das Warum geben.
Die Vorwürfe
Der Apotheker aus Bottrop soll Krebsmedikamente in mehr als 50 000 Fällen gepanscht und teuer verkauft haben. So betrog er die Krankenkassen womöglich um Millionen, Tausende Patienten könnten zu gering dosierte Wirkstoffe bekommen haben. Auch die Regeln der Hygiene soll er missachtet haben: Zeugen berichten, der Chef habe den vorgeschriebenen Reinraum in Hemd und Sakko betreten, manchmal sogar mit seinem Hund – lebensgefährlich für stark immungeschwächte Kranke.
Bewiesen ist das noch nicht, das Ermittlungsverfahren aber abgeschlossen; die Anklage wird demnächst erwartet. Vorgeworfen werden dem Apotheker schwere Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz und Betrug, „gewerbsmäßig“, befand das Oberlandesgericht Hamm, das im Juni wegen „dringenden Tatverdachts“, „zu erwartender hoher Strafe“ und „deutlicher Fluchtgefahr“ die Untersuchungshaft verlängerte. Ermittelt wurde auch wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge. Die aber wird schwer nachzuweisen sein: Die Staatsanwälte müssten belegen, dass ein Patient wegen eines falsch dosierten Medikaments verstorben ist.
Infusionsbeutel ohne Wirkstoff
Aufgeflogen ist die Sache durch Mitarbeiter der Apotheke: den kaufmännischen Leiter, der inzwischen fristlos gekündigt ist, und eine frühere Assistentin, die eine verdächtige Infusion zur Polizei trug. Die ließ das „Medikament“ untersuchen – es enthielt keinerlei Wirkstoffe, war reine Kochsalzlösung. Ende 2016 wurde der Apotheker festgenommen, die Apotheke durchsucht. 50 sichergestellte Präparate wurden überprüft; in 35, bestätigt Essens Oberstaatsanwältin Anette Milk, habe man „signifikante Fehlmengen“ gefunden. Abgleiche von Akten ergaben, dass S. weniger Wirkstoffe einkaufte, als er abrechnete. So soll er seinen Gewinn in einem Fall fast verachtzehnfacht haben.
Weil aber der Beschuldigte bislang nicht redet, sei die Aufklärung, so Anette Milk, „extrem schwierig“: Man wisse nicht, wann S. wem welches Medikament zukommen ließ. Gab es ein Muster? Die Ermittlungen sind noch nicht am Ende.
Der Beschuldigte
Wer ist dieser Peter S.? Das weiß in Bottrop jeder – und doch wieder nicht. Sohn einer Apotheker-Familie, dessen Weg vorgezeichnet war. Man gehörte zum „Stadtadel“, das gut gehende Geschäft sollte der Junior übernehmen. „Keine coole Kindheit“, sagen Schulkameraden. Bundeswehr, Approbation, keine Frau, keine Kinder, aber ein Hund namens Grace. Der 46-Jährige, ein Arbeitstier: Tag und Nacht arbeitete er daran, Ruf und Ruhm der über 150 Jahre alten Apotheke als „Nummer 1 am Platz“ zu mehren, gern mit zwei Telefonen gleichzeitig am Ohr, immer betriebsam, immer etwas atemlos. Nicht reden, machen!
Ein kumpeliger Chef soll er nicht gewesen sein, aber einer, der gut zahlte, lieber einen Apotheker mehr als einen Apotheken-Helfer. Qualität war sein Mantra. Auch bei Bauprojekten – alles neu, alles top, keine halben Sachen. Werbegeschenke hatte er nicht nötig, verteilte sie aber aus vollen Händen. Auch einen Betrug, sagen Wegbegleiter, hätte er gar nicht gebraucht: Das Gesundheitszentrum rund um die bestens laufende Apotheke mit ihren 90 Mitarbeitern sei eine „Millionengrube“. Und die private Villa so teuer nicht, wie kolportiert wird, trotz Rutschbahn vom Ober- ins Erdgeschoss.
Das ist es, was die Menschen aus dem Umfeld von S. so ratlos macht: Warum sollte er, wenn doch Geld keine Rolle spielte? Jedenfalls nicht für den eigenen materiellen Reichtum. Vielleicht aber erkaufte sich der Alleinstehende Anerkennung, Zuneigung sogar. Als Wohltäter kannte man ihn, der mit Nullen auf seinen Schecks großzügig war. Er spendete hier, spendete dort, erfand den Spendenlauf für das Hospiz, warf persönlich von einer Art Hochsitz aus die Münzen ein. Achtmal organisierte er den Lauf, zuletzt war der Erlös fast sechsstellig; es heißt, S., der sich so gern als Gönner gab, habe selbst tüchtig nachgeholfen. Bis heute laufen Jogger mit gesponserten Shirts durch die Stadt.
Der stattliche, joviale Typ, der in der Haft stark abg
enommen haben soll, engagierte sich für das städtische Marketing, für Gesundheitsvorsorge, für das Forum „Bottrop Informier Dich“. Hier sprach er über die „Seriosität der Apotheken“, einmal ging es um Heilungschancen bei Krebs. „Krebs geht uns alle an“, sagte S. damals.
Was er wirklich dachte? Viele würden das gern wissen. Wenn es stimmt, was man ihm vorwirft, was war das Motiv? Der Zynismus eines Mannes, der zu viele sterben sah? Allmachtsgefühl, Raffgier? Die ihn näher kennen, eint: Sie haben keine Erklärung. Und S. schweigt. Seine Anwälte haben auf die Anfrage der WAZ nach einer Stellungnahme bislang nicht reagiert.
Das Stadtgespräch
„Bottrop ist ein Dorf“, sagen die Bottroper, die mit mehr als 100 000 Einwohnern immerhin eine Großstadt bilden. Aber es ist tatsächlich so: dass bald jeder einen kennt, der an Krebs erkrankt oder dessen Freund/Nachbar/Partner daran gestorben ist. Der wiederum seine Medikamente von Peter S. bekam.
Denn auch das ist Bottrop: eine Stadt mit einer Mitte, und in dieser Mitte ist die Apotheke. „Eine sehr schöne“, schrieben die Leute ins Gästebuch, „sehenswert“. Aber das war vor dem letzten Dezember. Tatsächlich ist der rosafarbene Altbau eine der hübschesten Adressen in der Fußgängerzone und die Apotheke, derzeit offiziell von Mutter S. geführt, immer voll, auch jetzt noch.
Doch nur mit Steuern getrickst?
Hier löst man seine Rezepte ein, viele werden ja in den Ärztehäusern der Nachbarschaft ausgestellt: Dies ist MediCity, das Projekt des Investors Peter S. – und sein Geschäftsmodell. Immer weitere Häuser nebenan ließ er sanieren oder neu bauen, setzte Ärzte aller Fachrichtungen hinein, deren Patienten ihre Medikamente bei ihm kaufen. „Weil Gesundheit ein Geschenk ist“, steht über jedem Portal auf 150 Metern erster Innenstadtlage. Die Onkologische Praxis liegt schräg gegenüber.
Nichts ist hier zu sehen von der jüngsten Geschichte dieser Meile, aber sie bewegt die ganze Stadt. Bottrop ist ratlos. Tut sich schwer zu glauben, dass der angesehene Herr S. ..., versteht nicht warum. Es gibt nur dieses Gesprächsthema, in Cafés, in Büros, unter Nachbarn. Man streitet über Vorverurteilungen, schimpft oder mahnt abzuwarten. „Vielleicht hat er doch nur steuerlich getrickst?“ Jeder weiß den vollen Namen des Beschuldigten, viele kennen ihn persönlich, sind mit ihm zur Schule gegangen. Sein Fehlen ist schon zu spüren: Sein jährlicher Spendenlauf für das Hospiz ist „aus bekannten Gründen“ 2017 ausgefallen. Andere Initiatoren kündigten nun einen Ersatz an. Die Bauarbeiten in der Einkaufsmeile gehen derweil weiter.
Auf der Internetseite der Stadt steht der sogenannte „Apotheken-Vorfall“ ganz oben, neben der neuen Rathaus-Adresse und dem Thema „Zukunftsstadt“. Es gibt hier eine Hotline, bei der sich anfangs bis zu 130 Anrufer am Tag meldeten, zuletzt wieder an die 30. Und seit neuestem eine Liste der Wirkstoffe, „für die eine Unterdosierung in den Infusionen angenommen werden muss“: Sie ist seit Dezember von fünf auf 49 angewachsen.
Die Betroffenen
Ihre Zahl geht wohl in die Tausende: Menschen, die sich fragen, ob sie wertvolle Lebenszeit verloren haben, ob inzwischen Verstorbene noch leben könnten. Fragen, auf die es womöglich nie eine Antwort geben wird. Im ARD-Magazin „Panorama“ sprach eine Mutter über ihre Tochter, die drei Wochen nach Bekanntwerden der Ermittlungen den Kampf gegen den Krebs verloren hat: „Mich macht das verrückt bei dem Gedanken, dass er vielleicht daran schuld ist ...“ Die 44-Jährige hinterließ zwei Kinder.
Die meisten Betroffenen aber wollen nicht reden. Zu groß sind Schmerz, Angst, Wut. Und die Furcht, dass Wunden wieder aufreißen. Die 70-Jährige, bei der die Wirkung ihrer Medizin plötzlich nachließ, die 47-jährige Mutter eines kleinen Sohns: Was wäre, wenn?
Einige, wie ein Ehepaar aus Dorsten, haben den Apotheker angezeigt. Die Patientenanwältin Sabrina Diehl aus Marl bereitet zudem eine Zivilklage vor. Die Juristin wirft S. vor, „aus Geldgier mit dem Leben von Menschen gespielt“ zu haben. Ihre Mandanten sind Hinterbliebene oder Krebspatienten, die ihre Hoffnung in Medikamente gesetzt hatten, die ihre Medizin aus Bottrop bezogen. Eine Frau ist darunter, deren Tumormarker trotz der Behandlung stiegen – und nach Bekanntwerden der Vorwürfe und dem Wechsel der Apotheke wieder sanken. Ein Strafprozess wird die Schuldfrage klären. Bottrop wartet und hofft auf: Antworten.
INFO: ANKLAGE SOLL BALD FERTIG SEIN
Peter S. sitzt seit dem 29. November 2016 in Untersuchungshaft. Das Ermittlungsverfahren u.a. wegen Arzneimittelbetrugs in mehr als 50 000 Fällen ist inzwischen abgeschlossen.
„Demnächst“, wie die Staatsanwaltschaft Essen sagt, wird die Anklageschrift erwartet.