Essen. Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen: Die Behörden kannten die Verdächtigen Tolga I., Yussuf T. und Mohammed B. - Mutter warnte vor 17-jährigem Sohn.

Wie ein Poesiealbum sollen sie aussehen, die Aufzeichnungen von Tolga I. Nur stecken in seiner Kladde keine Gedichte. Sondern „Pläne zur Bekämpfung von Ungläubigen“, heißt es in Medienberichten. Nein, „allein Hinweise auf mögliche Eigentumsdelikte“, widerspricht die Polizei. Poesie klingt jedenfalls anders, und unterschrieben sind die Notizen „in unbeholfener Kinderschrift“ von drei jungen Männern: Yusuf T. als „Emir“, also der Chef, Mohammed B. für den „Zusammenbau“ und Tolga I. als Geldbeschaffer – die drei mutmaßlichen Attentäter auf den Essener Sikh-Tempel.

Hinweise schon am Tag nach Ostern

Was auch immer wirklich darin stand – die Kladde lag der Duisburger Polizei seit dem 29. März vor, dem Dienstag nach Ostern. Zweieinhalb Wochen vor dem Anschlag auf die Hochzeit, bei dem drei Menschen verletzt wurden. Die Mutter von Tolga I., dem 17-Jährigen aus Schermbeck, spielte den Ermittlern Fotos aus dem Kinderzimmer ihres Sohnes zu, von „acht Bilddateien“ ist die Rede. Es soll bereits das zweite Mal gewesen sein, dass die Mutter sich an die Polizei wandte.

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Tatsächlich war Tolga I. dort kein Unbekannter: Der Staatsschutz Duisburg hatte ihn schon seit Monaten im Visier, hatte ihm im Januar den Pass entzogen – ein Ausreiseverbot. Offenbar gab es Hinweise auf Verbindungen des Berufsschülers zu den IS-Sympathisanten von Dinslaken-Lohberg und konkrete Reisepläne nach Syrien oder in den Irak. Anfang Mai wurde der junge Mann als dritter Tatverdächtiger im Essener Fall festgenommen. Er sitzt seither in Untersuchungshaft.

Nach den Recherchen geht es in den Notizen des 17-Jährigen um konkrete Anschlagspläne, akribisch festgehalten. Unter anderem geht es darum, mit Straftaten an Geld für Bomben zu kommen. Tatsächlich, ergaben die Ermittlungen, hat das Trio später Einzelteile zum Bombenbau unter Klarnamen im Internet bestellt. Die Duisburger Polizei will tatsächlich Belege für möglicherweise geplante Diebstähle, aber „keine konkreten Hinweise auf geplante Anschläge“ in der Kladde entdeckt haben. Sie untersuchte die Fotos am 30. März, dem Tag, nachdem sie die Bilder erhalten hatte. Laut Medienberichten soll dies erst am 26. April, also zehn Tage nach der Bombenexplosion passiert sein. Die Inspektion Staatsschutz, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme der Polizei, habe ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und bei der zuständigen Duisburger Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss angeregt. Diese habe jedoch keinen Anfangsverdacht gesehen.

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Offensichtlich ist damit in jedem Fall, dass jeder der drei mutmaßlichen Anschlagsbeteiligten der Polizei schon vorher bekannt war. Auch wenn der Staatsschutz wegen des jugendlichen Alters keine Daten speichern durfte: Tolga I., 17, hatte keinen Pass mehr, seine Mutter hatte der Duisburger Polizei von ihrer Sorge berichtet, der Sohn radikalisiere sich. Mohammed B., 16, aus Essen war der örtlichen Polizei mit seiner Internet-Seite „Kuffr-Killer“ aufgefallen, in der er etwa die Terror-Opfer von Paris verhöhnte.

Yussuf T., 16, aus Gelsenkirchen, befand sich längst im „Wegweiser“-Programm des Landes für Salafisten-Aussteiger, war also als Gefährder bekannt. Trotzdem war es ihm gelungen, bei einer polizeilichen Durchsuchung seines Zimmers sein Handy zu verstecken. Als er sich damit brüstete, auf dem Schulhof das Video einer Explosion zeigte, riefen seine Klassenlehrerin und sein Schulleiter die Gelsenkirchener Polizei zur Hilfe. Im Jugendamt wunderte man sich am Dienstag, wie „dünn“ Yussufs Akte dort trotzdem war.

Ermittler entschuldigen sich

Die Polizei entschuldigte sich Anfang der Woche für ihre „falsche Entscheidung“, keine „Maßnahmen in Absprache mit der Justiz“ eingeleitet zu haben. Die Reaktion auf die Hinweise der Schule seien „nicht konsequent genug“ gewesen. Warum das so war, werde „innerhalb des Polizeipräsidiums Gelsenkirchen ausgewertet“. Auch die Stadt untersucht den Vorgang.

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Das aber dürfte womöglich nicht genug sein. Gelsenkirchen kannte Yussuf, Essen kannte Mohammed, Duisburg kannte Tolga – doch offenbar wurden die Informationen nirgendwo zusammengeführt. Niemand sah voraus, welch’ verhängnisvolles Trio da bereits konkrete Pläne schmiedete und am 16. April auch umsetzte. Hinterher ist man immer schlauer? Der Generalbundesanwalt prüft, ob er das Verfahren wegen des Verdachts des versuchten Mordes und der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion gegen die drei an sich zieht.

„Spaß am Böllerbauen“ gaben die Festgenommen zunächst als Tatmotiv an; einen islamistischen Hintergrund gebe es nicht.

Schnell erhärtete sich jedoch der Verdacht: Alle drei waren als Salafisten bekannt, sympathisieren mit dem IS.