Krefeld. Die Kunstmuseen Krefeld zeigen die bisher größte Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Sarah Morris. Dabei spielt der Ort eine große Rolle.

Direkt am Eingang schreit einem das große „Nichts“ entgegen, zwar auf Englisch, dafür aber unmissverständlich in knalligem Rot auf leuchtendem Gelb. Dabei geht’s in der Retrospektive „All Systems Fail“ im Haus Lange/Haus Esters weniger ums „Nothing“ und eher um, nun ja, „Alles“. Die amerikanische Künstlerin Sarah Morris beschäftigt sich in ihren vielfältigen Werken mit dem modernen Leben, mit seinen verschiedenen Systemen und Strukturen. Dass nun ihre bislang umfangreichste Ausstellung ausgerechnet in Krefeld zu sehen ist, erscheint auf den ersten Blick etwas überraschend, beim Rundgang durch die Villen dagegen sehr passend…

Um das zu verstehen, führt Kuratorin Juliane Duft vom „Nothing“ vorbei am „Liar“ in den nächsten, lichtdurchfluteten Raum. „Sarah Morris ist nicht als Künstlerin ausgebildet, sondern hat Semiotik studiert“, erzählt sie. „Also die Wissenschaft der Zeichen.“ Deshalb also die knalligen Schriftzüge, die sie einst in ihrer Heimatstadt New York entdeckt und anschließend in ihren Kunstwerken verarbeitet hat. Denn alles ist doch ein Zeichen: Schrift, natürlich, aber auch Bilder oder sogar Wolkenkratzer. Letztere haben es der Künstlerin besonders angetan, immer wieder läuft sie durch Großstädte und fotografiert Hochhäuser. In mehreren Vitrinen sind einige der Fotos zu sehen.

Von Krefeld nach New York

Ein echtes Novum, wie Juliane Duft verrät. „Ihr Arbeitsprozess wird erstmalig gezeigt.“ Und das lohnt sich! Denn neben den Fotos von Fassaden liegen Zettel über Zettel, die an komplizierten Mathematikunterricht erinnern… Alles hat System! „Die Ausschnitte abstrahiert sie weiter und malt sie dann mit Haushaltslackfarbe, die man im Baumarkt kaufen kann, auf Leinwand“, erklärt sie. Grüne, weiße, graue Quadrate wechseln sich ab, werden von schwarzen Diagonalen durchzogen, und bilden so ein neues Raster. Klar, das erinnert an Künstler wie Josef Albers oder Piet Mondrian, aber, das betont die Kuratorin: „Sarah Morris erkennt immer noch an allen Ecken die Realität.“

Die Künstlerin Sarah Morris plant ihre Filme genau durch – und verwandelt die „Timecodes“ ebenfalls in ein Kunstwerk, die aktuell in Haus Lange/Haus Esters in Krefeld zu sehen sind.
Die Künstlerin Sarah Morris plant ihre Filme genau durch – und verwandelt die „Timecodes“ ebenfalls in ein Kunstwerk, die aktuell in Haus Lange/Haus Esters in Krefeld zu sehen sind. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Unter der glatten Oberfläche der Abstraktion verbirgt sich stets ein existierendes Hochhaus. Und was für eines: „Das ist das Seagram Building in New York, das Mies van der Rohe entworfen hat“, erklärt Juliane Duft. Ebenjener Architekt, der auch Haus Esters und Haus Lange geplant hat. Klare Linien, großzügige Räume, riesige Fenster… „Er hatte einen großen Einfluss darauf, wie Städte heute aussehen“, betont sie. Und so schließt sich der Kreis, so kehrt Mies van der Rohe aus New York zurück nach Krefeld – durch eine Künstlerin aus New York, die nun in Krefeld ausstellt. „Wir suchen immer Künstler*innen, die 100 Jahre später fragen, was aus den damaligen Ideen geworden ist.“

Städte in Bildern

In welcher Welt leben wir heute? Diese Frage stellt sich Sarah Morris immer wieder, wenn sie eine neue Stadt erkundet – und weitere Werke erschafft. Das können Gemälde, Zeichnungen oder auch Filme sein. Dazu geht’s nun in einen dunklen Raum, in dem gerade der Film „Chicago“ läuft.. Bitte Platz nehmen! Denn nur so, mit Ruhe und Zeit, entfaltet das Werk seine Wirkkraft. Elektrische Musik erklingt, glänzende Autos fahren vor. Und dort, in den Spiegelungen der Windschutzscheibe, tauchen wieder die Hochhäuser auf. „Die Stadt als repetitives System, das rattert“, so beschreibt es die Kuratorin. „Sarah Morris versucht, die Atmosphäre einzufangen.“

Mies van der Rohe kehrt aus New York zurück nach Krefeld – durch Sarah Morris, die in den Kunstmuseen Krefeld ausstellt.
Mies van der Rohe kehrt aus New York zurück nach Krefeld – durch Sarah Morris, die in den Kunstmuseen Krefeld ausstellt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Doch auch das ist kein spontaner Prozess, wie die vielen, vielen „Timecodes“ beweisen. Jede Minute, ach was, jede Sekunde ist durchgeplant. „07:02:04 Pentagon/ Washington Post vending machine / walkway to Pentagon“ heißt es zu „Capital“, dem Film über Washington, dann „07:02:33 Pentagon / people walking to work“ und so weiter und so fort… Wem das zu kleinteilig ist, sollte vom Haus Lange (in dem es noch viele weitere Räume und mehr Kunst zu entdecken gibt) rüber zum Haus Esters laufen. Dort hängt „Rio“, ein riesiges Gemälde, das durch ineinandergreifende Farbkreise die lebensfrohe Atmosphäre der Großstadt widerspiegelt. Direkt gegenüber: „Los Angeles“, das kantiger, schriller, energischer ist.

Audioaufnahme als Wandgemälde

„Und hier drüben“, Juliane Duft zeigt auf ein großes Quadrat mit sternenförmige Strukturen, die an Origamifalttechniken erinnern, „ist Peking“. So schnell geht’s auf Weltreise – nur um zuletzt noch einmal zurückzukehren, mit allen Sinnen. „Society is Abstract – Culture is Concrete“ heißt das Wandgemälde, das Sarah Morris extra für den kleinen Raum ausgewählt und zugeschnitten hat. Es basiert auf einer Audioaufnahme des gleichnamigen Satzes – „die Grafik kennt man auch von Sprachnachrichten bei Whats App“ – die nun als farbige Rechtecke auf den vier Wänden abgebildet ist. Aber ließe sich die Grafik auch zurück in den Ton übersetzen? Juliane Duft schüttelt den Kopf. Nee, daran scheitert dann doch das künstlerische System.

>>> Amerikanische Kunst in den Krefelder Museen

Die Kunstmuseen Krefeld präsentieren die Ausstellung „Sarah Morris. All Systems Fail“, die noch bis zum 10. März 2023 im Haus Lange/Haus Esters sowie im Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld zu sehen ist.

Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiger Katalog im Hatje Cantz Verlag (42 Euro im Museum, 49 Euro im Buchhandel). Weitere Infos: www.kunstmuseenkrefeld.de