Bedburg-Hau. Die finnische Künstlerin Elina Brotherus ermöglicht mit ihren Arbeiten einen neuen Blick auf Joseph Beuys – zu sehen im Museum Schloss Moyland.
Blitzschnell läuft eine dunkelgekleidete Gestalt übers endlosweite Feld, verschwindet geräuschlos aus dem Bild und taucht dann urplötzlich wieder auf. Ihr Gesicht ist nicht zu erkennen, nur ein Merkmal fällt sofort auf: dieser unverkennbare Filzhut… Aber nein, es ist nicht der echte Joseph Beuys, der im Video zu sehen ist. Stattdessen verkörpert die finnische Künstlerin Elina Brotherus eine fiktive Figur, die einen neuen und weiblichen Blick auf den Ausnahmekünstler ermöglicht. „Ich bin froh, dass sie sich auf das Abenteuer und Experiment bei uns eingelassen hat“, erklärt Dr. Antje-Britt Mählmann, die übrigens selbst nicht nur als Kuratorin in der Ausstellung „Kartoffelpflanzen – Transformationen. Elina Brotherus, Joseph Beuys und der Galerist René Block“ im Museum Schloss Moyland tätig war… Doch dazu verrät sie erst am Ende des Rundgangs mehr.
Zunächst aber geht’s nun um Elina Brotherus, eine der bedeutendsten Künstlerinnen und Künstler Finnlands. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich viel mit ikonischen Motiven, mit klassischen Bildern der Kunstgeschichte. Doch irgendwann, so sagt sie selbst auf Englisch, erreichte sie ein „totes Ende“. Inspiration fand sie erst wieder, als sie „Event Scores“, Aufzeichnungen von Performances, beim Galeristen René Block entdeckte. Ob sie die wohl für ihre Arbeit nutzen dürfte? Klar! Und so widmet sie sich seitdem verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern, beackert dabei auch das Werk von Joseph Beuys. Und das buchstäblich. Um das zu verstehen, bitte einmal auf eine Serie aus Schwarzweißfotos schauen: Joseph Beuys pflanzte 1977 Kartoffeln, die er am Ende der Documenta 6 erntete und für ein „Kartoffeldinner“ verwendete. Die Reste, das Kartoffelkraut, bewahrte er auf…
Hund interviewt Galeristen
Und nun sind sie in einem Glaskasten zu bestaunen. Ja, tatsächlich, der organische Haufen und der braune Klumpen sind Überbleibsel der Aktion von 1977. „Das wiegt fast nichts mehr“, weiß Dr. Antje-Britt Mählmann. Alles verwandelt sich, deshalb auch der Titel „Kartoffelpflanzen – Transformationen“. Doch nicht nur der Künstler vom Niederrhein, auch die Künstlerin aus Finnland findet ebenjene Prozesse spannend. Nun gab’s allerdings ein Problem, als sie auf die Arbeit stieß: „Es war September und damit zu spät, um Kartoffeln zu pflanzen.“ Ein Glück, dass sie in ihrem Garten sowieso Kartoffeln gepflanzt hatte und diese nun für ihre Videoarbeit ernten konnte. Quasi als „Spin-Off“, wie sie sagt. Dort drüben ist sie nun also bei ihrer Arbeit zu sehen, wie sie in die Erde sticht und Kartoffel für Kartoffel herausholt, dabei stets an ihrer Seite: Dackel Marcello, der in einer anderen Arbeit noch einmal auftaucht. Als Interviewer.
Gut, etwas verrückt klingt das schon, aber ist es wirklich verrückter als die Performance, auf die sich Elina Brotherus bezieht? 1974 bis 1977 führte René Block neben seiner Galerie in Berlin noch eine weitere in New York, die er mit Joseph Beuys’ Aktion „I like America and America likes me“ eröffnete. Dabei ließ sich der Künstler mehrere Tage mit einem Kojoten in der Galerie einschließen. Die Arbeit darf, sollte sogar, kritisch betrachtet werden, „immerhin war es ein wildes Tier“, sagt Elina Brotherus. Das schreit doch nach Erklärungen! Nun ist der Künstler selbst ja leider schon tot, nicht aber der Galerist. Und so erklärt in einem Video nun eben René Block, nein, keinem toten Hasen die Bilder, sondern dem lebenden Kaninchendackel Marcello die Aktion. „René Block hat Joseph Beuys, aber auch Elina Brotherus inspiriert“, sagt Dr. Antje-Britt Mählmann, „deshalb wollten wir ihn durch die Ausstellung mit ins Licht rücken.“
Beuys und die Guerrilla Girls
Und noch ein Name taucht immer wieder auf: Ute Klophaus, die als Fotografin Joseph Beuys über viele Jahre begleitet hat. Zahlreiche Fotos sind in der Ausstellung zu sehen, denn es geht auch um ihren Blick auf den Künstler, „der emotional geprägt war“, weiß Dr. Antje-Britt Mählmann, „es ging ihr nicht nur um ihn als Marke, sondern auch als Menschen.“ Mal sitzt er allein und gedankenverloren in einem Raum, mal steht er grinsend inmitten seiner Fans und gibt Autogramme. Das Foto selbst kann aber auch zum abstrakten Kunstwerk werden, wenn beispielsweise die Doppelbelichtung dem Ausnahmekünstler plötzlich einen vermeintlich zweiten Filzhut aufsetzt. Wie gut, dass Elina Brotherus auf einem Flohmarkt nicht nur einen, sondern zwei solcher Hüte fand… In den meisten Fällen aber trägt sie nur einen, um sich in eine fiktive Beuys-Figur zu verwandeln.
Als solche hat sich die Künstlerin auf eine Reise begeben – zu den Orten, an denen auch der Künstler war. So läuft „Beuys über Felder in Kranenburg“… oder aber „Beuys“ liegt auf dem Bett im Haus der Brüder van der Grinten, wo er sich einst von einer Krise erholte, und verlässt schließlich die Düsseldorfer Kunstakademie, aus der er geschmissen wurde. Elina Brotherus begibt sich auf eine Spurensuche, allerdings auf keine dokumentarische, sondern auf eine fiktive – um Freiraum zu lassen für neue Erkenntnisse, andere Perspektiven. Dabei hat sie den „ikonischen Künstler“ selbst ebenfalls neu kennengelernt. „Als Feministin kann man es durchaus kritisch sehen, dass er als männlicher Künstler des 20. Jahrhunderts alle weiblichen Künstlerinnen in den Schatten stellte“, sagt sie. Deshalb also ihre Arbeit „Beuys and Guerrilla Girls“, auf dem „Beuys“ durchgestrichen und „Girls“ daruntergeschrieben ist?
Regenbogen für Istanbul
Nun ja, nach ihrer Recherche weiß sie: „Beuys hat alle Studierenden unterstützt, gerade auch die weiblichen.“ Doch die Kritik am System, das Frauen in der Kunst bis heute benachteiligt, ist durchaus berechtigt. „Die Gender Pay Gap im Kunstbetrieb ist weiterhin groß“, betont Dr. Antje-Britt Mählmann. Wie viel Ungerechtigkeit noch immer in der Welt herrscht, das zeigte sich auch bei einer Reise nach Istanbul, die Kuratorin und Künstlerin gemeinsam unternahmen. „Zu dem Zeitpunkt fand der Gay Pride statt und alles wurde abgeriegelt.“ Die Regierung hatte das Fest, auf dem sich queere Menschen für ihre Rechte einsetzen wollten, verboten. Mehr noch: „Kinder dürfen mittlerweile nicht mal mehr Regenbogen malen.“ Deshalb stand für Elina Brotherus schnell fest: „Istanbul braucht einen Regenbogen.“ Also setzte sie sich den Filzhut auf, stellte sich ans Wasser… Und dann wurde die Kuratorin tatsächlich zur Künstlerin, „ich sollte auf den Auslöser drücken“. Nun hängt das Bild auf einer der vielen bunten Wände in der Ausstellung. Darauf zu sehen: „Beuys“ mitten in Istanbul, unter einem Regenbogen.
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Die Ausstellung „Kartoffelpflanzen – Transformationen. Elina Brotherus, Joseph Beuys und der Galerist René Block“ ist noch bis zum 25. Februar 2023 im Museum Schloss Moyland zu sehen.
Jeden ersten, dritten und fünften Sonntag im Monat finden um 15 Uhr öffentliche Führungen statt. Die Kosten betragen drei Euro zuzüglich Museumseintritt.
Im November erscheint beim Kehrer-Verlag ein Katalog, der mit rund 240 Seiten 120 Abbildungen die Ausstellung umfassend dokumentiert. Weitere Informationen: www.moyland.de