Essen. . Die Sozialgerichte werden noch immer von Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide überschwemmt. Kläger müssen lange warten, ehe Recht gesprochen wird. Joachim Nieding ist der neue Präsident des Landessozialgerichts. im Gespräch mit der NRZ fordert er eine Verstärkung seines Personals.
Hartz-IV-Klageflut und kein Ende? Seit Ende Juni ist Joachim Nieding neuer Präsident des Landessozialgerichtes NRW. Im Interview mit der NRZ erklärt der 62-jährige Jurist, wie er seiner Aufgabe gerecht zu werden versucht.
2005 wurde Hartz IV eingeführt, – lange her. Warum werden die Aktenberge bei Ihnen nicht kleiner?
Joachim Nieding: Durch Entscheidungen des Bundessozialgerichtes ist mittlerweile zwar eine Reihe von Fragen geklärt. Die Anrechenbarkeit von Einkommen und Vermögen, die Angemessenheit von Wohnungen, die Frage von Bedarfsgemeinschaften sind aber weiter Knackpunkte. Da kommt es immer auf den Einzelfall an. Die Bearbeitung ist daher sehr aufwendig. In diesem Jahr erwarten wir an den Sozialgerichten in allen Rechtsgebieten rund 82 500 Neueingänge an Klagen und einstweiligem Rechtsschutz. Rund ein Drittel davon hat mit Hartz IV, also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, zu tun. Insgesamt ist das ein leichter Rückgang. Aber wir bewegen uns auf einem ganz, ganz hohen Niveau. Wir werden zum Jahresende noch etwa 85.650 Verfahren im Bestand haben, die auch erledigt werden müssen. Am Landessozialgericht, der zweiten Instanz, werden es 7670 Eingänge sein. Der Bestand wird sich etwa auf 6100 Verfahren belaufen.
Wie kommt es, dass es immer noch so viele Verfahren sind? Wird in den Jobcentern nicht sauber gearbeitet?
Joachim Nieding: In den Jobcentern sehe ich kein strukturelles Problem. Die Anwendung von Hartz IV auf den Einzelfall ist eine riesige Herausforderung für die Sachbearbeiter im Jobcenter – und für die Gerichte. Die Gerichte sind hier Reparaturbetrieb für den Gesetzgeber, denn im Gesetz stehen zahlreiche schwierige, unbestimmte Rechtsbegriffe. Wie etwa die Angemessenheit der Unterkunftskosten, die im Einzelfall ausgefüllt werden müssen.
Wie lange müssen Betroffene auf ihr Recht warten?
Joachim Nieding: Wir haben eine durchschnittliche Verfahrensdauer in der ersten und zweiten Instanz von jeweils etwas über einem Jahr. Bei Hartz IV-Angelegenheiten sind es sogar weniger als elf Monate. Einstweilige Rechtsschutzverfahren dauern bei den Sozialgerichten bei Hartz IV-Streitigkeiten nur etwa einen Monat und 1,2 Monate auf allen anderen Gebieten. Die Werte für diese Eilverfahren sind vorzüglich und nicht mehr verbesserungsfähig. Aber es gilt natürlich: Das sind Durchschnittswerte, im Einzelfall kann es länger dauern. Und die Bestände machen mir Sorge.
Warum?
Joachim Nieding: Im Hartz-IV-Bereich fallen viele Verfahren an, die Anzahl der Richterinnen und Richter ist aber begrenzt. Wir können demjenigen, der keine Unterkunft hat, der kein Geld für Lebensmittel hat, nicht warten lassen. Hartz-IV-Verfahren binden damit Kapazitäten, andere Anliegen dauern dadurch mitunter länger. Es gibt zum Beispiel am Landessozialgericht mittlerweile eine erhebliche Zahl von Verfahren, die deutlich länger als zwei Jahre anhängig sind. Für den Rechtsschutzsuchenden ist das unbefriedigend – bis hin zur Unzumutbarkeit. Die Menschen sind auf ihre Rente angewiesen.
Was kann man dagegen tun?
Joachim Nieding: Der Gesetzgeber kann den Zugang zum Recht beschränken, was ich für ausgesprochen heikel halte. Gerade in der Sozialgerichtsbarkeit haben wir es mit Klägern zu tun, die besonders schutzbedürftig sind. Die andere Stellschraube, die ich habe, um die Sozialgerichte zu entlasten, ist Personalverstärkung. Verstärkungen hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Zum Jahresende 2003 hatten wir 247 Richter-Stellen; zum Anfang dieses Jahres waren es 312. Hinzukommen derzeit acht Kolleginnen und Kollegen, die von den Amts- und Landgerichten abgeordnet wurden, um uns dankenswerterweise zu unterstützen. Diese solidarische Unterstützung wird im Laufe des Jahres 2014 auslaufen. Acht – das klingt zunächst nicht viel, entspricht aber etwa zwei Drittel der Personalstärke des Sozialgerichts Aachen. Ich würde mir wünschen, dass wenigstens die derzeitige Personalstärke auch in Zukunft für die Rechtsschutzgewährung zur Verfügung steht.
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Wie lange halten die Sozialgerichte diese Belastung aus?
Joachim Nieding: Die Kolleginnen und Kollegen gehen sehr verantwortungsbewusst mit der hohen Belastung um – und das seit Jahren. Eine Richterin bzw. ein Richter erledigt rund 400 Verfahren im Jahr und hat auch etwa 410 Verfahren im Bestand. Das heißt: Selbst wenn ab sofort keine Verfahren mehr hinzukämen, selbst dann hätten die Sozialrichter wegen der Bestände immer noch ein Arbeitspensum von rund einem Jahr.
Können Sie jungen Jura-Absolventen empfehlen, sich in Richtung der Sozialgerichte zu orientieren?
Joachim Nieding: Wenn man Freude an Rechtsprechung hat, wenn man auf einem hohen juristischen Niveau arbeiten will und dazu auch Empathie für die Anliegen hat, um die es im sozialgerichtlichen Rechtsschutz geht, dann kann ich nur sagen: Eine Bewerbung lohnt sich!