Viersen/Düsseldorf. . Die Polizei fahndet nach einem verurteilten und gefährlichen Sexualstraftäter, der schon am Sonntag bei einem begleiteten Ausgang geflohen war. Der 53-Jährige war seiner Pflegerin davon geradelt - in die Freiheit, einfach so. Erst drei Tage danach warnen die Behörden die Bevölkerung vor dem Sexualstraftäter. Das wirft Fragen auf.

Am Sonntag fuhr ein Sexualstraftäter seiner Pflegerin bei einem Radausflug in Mönchengladbach einfach davon. Nun sucht die Polizei in ganz Deutschland nach dem 53-Jährigen. Seine Flucht wirft Fragen auf.

Warum haben die Behörden erst nach drei Tagen informiert?

Es gibt keine allgemeine Regel für solche Fälle. Die Gefährlichkeit des Täters wird gegen die Gefahr seiner Stigmatisierung abgewogen und das Recht der Öffentlichkeit auf Information gegen die Möglichkeit, eine Panik auszulösen. Die Erfahrung habe gezeigt, sagt Staatsanwalt Hans-Werner Münker, dass viele unschuldige Leute verdächtigt werden und die Polizei mit Falschmeldungen überschwemmt wird, wenn sie jemanden „mit 08/15-Gesicht“ per Foto oder Phantombild sucht.

In diesem Fall haben Staatsanwaltschaft Hagen, Landschaftsverband Rheinland (LVR) und Polizei sich erst nach drei Tagen entschlossen, zu informieren – „weil es der Presse schon bekannt war“, erklärt Münker. Mit anderen Worten: Der Entflohene wurde nicht als so gefährlich eingestuft, dass man die Fahndung überhaupt hätte öffentlich machen müssen. „Und an der Einschätzung hat sich im Prinzip nichts geändert.“

Trotzdem warnen die Behörden nun, der Mann sei gefährlich.

„Mit zunehmender Fluchtdauer steigt die Gefahr eines Rückfalls“, sagt LVR-Sprecher Michael Sturmberg. Niemand kann sich eben sicher sein. „Wenn er nicht mehr potenziell gefährlich wäre, müsste man ihn sofort aus der Klinik entlassen“, sagt Staatsanwalt Münker. Aber dass die Therapeuten ihn seit Jahren so einschätzen, dass er in Begleitung ausgehen darf, „spricht dafür, dass er so ganz gefährlich auch nicht ist.“

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Sein Verbrechen bestand darin, wiederholt Kinder begrapscht und dabei masturbiert zu haben. Dafür hat er eineinhalb Jahre Haft bekommen, seit über 20 Jahren wird er „therapiert“. Auch wenn er „Fortschritte“ gemacht haben mag – bis jetzt hat jedes Jahr eine Kommission entschieden, dass er noch nicht als geheilt gelten kann.

Warum gestattet man Kinderschändern überhaupt Freigänge?

Auch psychisch kranke Straftäter haben einen Rechtsanspruch auf Vollzugslockerungen, wenn die Erfolge einer Therapie gutachterlich bescheinigt werden. Lockerungen beginnen mit ersten Ausgängen auf dem Klinikgelände, können zu begleiteten Ausflügen in die Freiheit oder zu längerfristigen Beurlaubungen weiterentwickelt werden.

Warum wurde der Geflohene nicht mit elektronischen Fußfesseln oder ähnlichem überwacht?

„Fußfesseln verhindern ja nicht allzu viel“, sagt Dieter Seifert, Professor für forensische Psychiatrie in Münster. „Die Diskussion geht in die Richtung, ob sie nicht sogar die Hemmschwelle senken, Straftaten zu begehen“, weil ein Flüchtiger weiß, dass er unter Zeitdruck steht.

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Das Kernargument: „Lockerungen sind Teil der Therapie“, erklärt Seifert. „Der Weg nach draußen kann nur erfolgreich sein, wenn er in kleinen Schritten erfolgt.“ Die Rückfallquote nach dem Aufenthalt in einer Forensik sei deutlich geringer (25 Prozent) als nach einer Haftstrafe (50 bis 70 Prozent). Zählt man nur die schweren Delikte, werde jeder zehnte nach dem Maßregelvollzug rückfällig, so Seifert. „Eine gewaltfreie Gesellschaft ist völlig irreal.“

Wie häufig kommt es zu Fluchten aus einer Forensik?

Im Vergleich zum normalen Strafvollzug kommen „Entweichungen“ im Maßregelvollzug eher selten vor. Im vergangenen Jahr gab es laut Landesgesundheitsministerium drei Fluchten von Sexualstraftätern, alle seien in ihre Kliniken zurückgekehrt. Der folgenreiche Freigang in Mönchengladbach war der erste Fall eines entwichenen Sexualstraftäters in diesem Jahr.

Wie viele Sexualstraftäter gibt es in NRW?

In NRW sind rund 3000 psychisch gestörte oder suchtkranke Straftäter in 14 reinen Maßregelvollzugskliniken und in 22 Allgemein-Psychiatrien untergebracht. 17 Prozent fallen in die Kategorie „Sexualstraftäter“. Da viele Kliniken überbelegt sind, will Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) bis 2020 weitere 750 Plätze an fünf neuen Standorten schaffen.

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Thiemann, Andreas WP_0--198x148.jpg
Von Andreas Thiemann

Obwohl die Einrichtungen videoüberwacht und mit mehr als fünf Meter hohen Zäunen umgeben sein sollen, gab es in den ausgeguckten Gemeinden Reichshof, Lünen, Haltern, Hörstel und Wuppertal zum Teil heftige Bürgerproteste.

Welche politischen Folgen hat die Mönchengladbacher Flucht?

Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug wird die Umstände überprüfen. Er berichtet an Gesundheitsministerin Barbara Steffens, die dann die Fachleute der Fraktionen im Landtag unterrichtet. In der folgenden politischen Debatte wird es darum gehen, Konsequenzen aus dem Fall zu ziehen.