Essen. .
Es soll ein Leuchtturmprojekt in der Metropole Ruhr werden, ein Haus, das Hoffnung gibt, ein Haus, in dem sich Kinder und Familien wohlfühlen. Im Herzen des Ruhrgebiets, am Uniklinikum Essen, soll auf Initiative des Initiativkreises Ruhr die modernste Kinderklinik Europas entstehen. Bis zu 150 kleine Patienten sollen dort Platz finden. Über die Klinikpläne, die Bedeutung der modernen Kindermedizin und ihre Wichtigkeit für das Ruhrgebiet sprach diese Zeitung mit dem Ärztlichen Direktor der Universitätsklinik Essen, Professor Dr. Eckhard Nagel.
Herr Professor Nagel. Eines müssen Sie uns erklären: Es werden immer weniger Kinder geboren. Warum braucht das Ruhrgebiet also eine neue Kinderklinik?
Professor Dr. Eckhard Nagel: Viele Krankenhausträger würden sagen: Es braucht keine neue Kinderklinik mehr. Es braucht auch keine Investition in eine Kinderklinik. Wir müssen uns vielmehr aus ökonomischen Gründen überlegen, ob wir unsere Kinderklinik nicht schließen sollten. So sieht leider die Realität aus.
Warum spielt die Kindermedizin eine solch untergeordnete Rolle?
Nagel: Es wird viel in medizinische Zentren investiert – aber fast immer in Hinblick auf den demografischen Wandel. Als ich bei Essens Oberbürgermeister Reinhard Paß zu Gast war, sagte er, dass er in letzter Zeit häufig geriatrische Einrichtungen besucht hat. Kinder haben keine eine große Rolle gespielt. Auch entwickelt sich die Kindermedizin langsamer als die Erwachsenenmedizin, nicht zuletzt deshalb, weil Forschung mit Kindern ethische Probleme aufwirft. Und wir haben ja auch de facto weniger Kinder und damit weniger Patienten. So verliert der Beruf des Kinderarztes an Attraktivität, weil junge Ärzte sich fragen, wie viele Kinder sie später eigentlich noch zu betreuen haben. Viele Kinderkliniken sind dementsprechend defizitär. Das alles hat zur Folge, dass man diesen Bereich in den letzten Jahren mehr und mehr ausgeblendet hat.
Dennoch möchte der Initiativkreis Ruhr in eine neue Kinderklinik investieren.
Nagel: Ja. Denn auf der anderen Seite sind wir in einer Situation, in der wir medizinisch so viel mehr leisten können für Kinder. So können wir Erkrankungen von Kindern heute heilen, die wir früher überhaupt nicht behandeln konnten. Als ich studiert habe, lag die Sterberate bei Kindern mit Leukämie bei 80 Prozent. Heute heilen wir 80 Prozent aller Kinder mit Leukämie. Eins von vielen Beispielen warum man entsprechende Einrichtungen braucht.
Wird es eine ideale Kinderklinik sein?
Nagel: Ich glaube, wir haben nur wenige Standorte in Deutschland, wo Kindermedizin auf höchstem Niveau – auch in entsprechenden Räumlichkeiten - so geleistet werden kann, wie man es sich heute vorstellt. Es gibt ein paar herausragende Kinderkliniken in den USA. In der Essener Kinderklinik ist in den 80er und 90er Jahren immer mal wieder angebaut und renoviert worden. Wir leben von Überbrückungslösung zu Überbrückungslösung. Ein Neubau ist zwingend notwendig, wenn man in einem menschlich vertretbaren Kontext kranke Kinder begleiten will. Denn auch das familiäre Umfeld gehört in den Therapiezusammenhang.
Was heißt das für die Behandlung?
Nagel: Die Eltern sind auch Patienten mit Ängsten, Sorgen, mit ihrer Unruhe und den Problemen, die die Krankheit des Kindes für sie mit sich bringen. Sie müssen auch betreut werden. Und das ist in den bestehenden Räumlichkeiten bisher überhaupt nicht abgebildet. Das muss sich in einem Neubau ändern. Ein krankes Kind ist für die Familie eine enorme Belastung. Die Scheidungsquote in Familien mit chronisch kranken Kindern ist unverhältnismäßig hoch. Auch wissen wir heute, dass Geschwisterkinder in einer ganz eigenen Weise mit betreut werden sollten. Wir müssen also viel mehr Energie und auch finanzielle Ressourcen in diesem Bereich investieren.
Es geht also nicht nur um einen Ersatz der alten Kinderklinik?
Nagel: Nein. Wir wollen ein Leuchtturmprojekt für unsere Kinder. Damit wollen wir, damit will der Initiativ-Kreis für das Ruhrgebiet deutlich machen: Hier kümmern wir uns um unsere Zukunft!
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In diesem Jahr haben wir in Deutschland über die Präimplantationsdiagnostik diskutiert. Manche Menschen fragen sich, warum überhaupt kranke Kinder geboren werden…
Nagel: Ja. Wir verfügen heute über eine ausgesprochen gute Pränataldiagnostik. Falsch verstanden könnte das bedeuten, wenn wir nur rechtzeitig genug die Erkrankung eines Kindes feststellen würden, bräuchte das Kind gar nicht geboren zu werden. Das ist eine heikle Situation. Wir erleben bereits, dass die Eingriffe z.B. in der Kinderchirurgie europaweit in den letzten 20 Jahren gesunken sind. Das ist nicht nur eine gute Nachricht. Es liegt nahe, dass die Kinder, die früher operiert werden mussten, heute nicht mehr geboren werden. Wie also gehen wir mit dieser Herausforderung langfristig um? Glauben wir wirklich, die Problematik der schweren Kinderkrankheiten durch moderne Pränataldiagnostik beseitigen zu können?
Was meinen Sie?
Nagel: Behindertenverbände kritisieren zu Recht, dass eine solche medizinische Entwicklung dazu führen würde, dass Behinderte immer weiter diskriminiert werden. Wenn man heute ein mongoloides Kind auf dem Spielplatz sieht, hören Eltern manchmal: Haben Sie keine vernünftige Schwangerschaftsbegleitung gehabt? Nach dem Motto: Das muss doch heute nicht mehr sein. So eine Entwicklung ist inakzeptabel! Und sie blendet völlig die Frage aus: Welchen Wert hat Krankheit, Überwindung von Krankheit und Leben mit einer Erkrankung für die gesunde Allgemeinheit? Diese Frage ist eine ethisch-moralische und eine ökonomische.
Und?
Nagel: Kranke Kinder haben einen unschätzbaren Wert in unserer Gesellschaft. Sie haben einen enormen Erfahrungsschatz im Umgang mit existenziellen Herausforderungen und so können sie ganz anders den Fragen des alltäglichen Lebens begegnen. Wir alle können von ihnen lernen, gerade wenn es um die Überwindung von individuellen und gesellschaftlichen Problemstellungen geht.
Zum Beispiel?
Nagel: Ich kenne ein junges, transplantiertes Mädchen, das eine Frisörlehre macht. Der Meister sagte mir: Das ist die Auszubildende, die die meiste Energie hat. In seinen 30 Jahren, in denen er ausbildet, hat er so etwas noch nicht erlebt. Obwohl sie mit Einschränkungen lebt und über Dinge nachdenken muss, die andere nicht berühren. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Augen öffnen – vielleicht sollte man im Hinblick auf Kinder auch sagen - unsere Herzen öffnen - für die Fähigkeiten unserer Mitmenschen, die mit schicksalhaften Erkrankungen leben und ihnen helfen, sich voll zu integrieren – nicht aus Mitleid sondern aus dem Wissen darum, dass uns dies als Gemeinschaft fördert. Gerne würde ich diese Gedanken über das Thema Kinderklinik mittransportieren. Es wäre meines Erachtens ein starkes Zeichen für unsere Region.
Der Bau der neuen Kinderklinik ist ein 80-Millionen-Projekt. Sie werden Spendengelder benötigen. Wie wollen Sie Spender gewinnen?
Nagel: Zuerst einmal bin ich sehr dankbar, dass der Vorsitzende des Vorstandes des Initiativ-Kreises, Bodo Hombach, sich des Themas angenommen hat. Damit wird deutlich, es ist eine Aufgabe für das gesamte Ruhrgebiet. Das Thema Kinderklinik geht uns alle an und insofern braucht es auch unser aller Unterstützung. Das ist mir wichtig.
Warum ist Ihnen das wichtig?
Nagel: Weil es eine konkrete Veränderung bewirken kann. Ich begegne dem Kind oder der Mutter auf der Straße ganz anders, wenn ich weiß, die Behandlung dieses Kindes, die Unterstützung für diese Mutter, die Hilfe für diese Familie: Das alles passiert in meinem eigenen Umkreis, das alles hat etwas mit mir zu tun. Es gibt ein gutes Beispiel. In Regensburg hat man die gesamte Kinderklinik über Spenden der Bürgerschaft finanziert. Bei jedem Bäcker, bei jedem Metzger konnte man zehn oder 15 Cent für die eigene Klinik spenden.
Bei zehn oder 15 Cent müssen Sie lange sammeln…
Owomoyela in Kinderklinik
Nagel: Ja, selbst wenn es viele Spender sind, kommt da nur langsam etwas zusammen. Darum brauchen wir auch große Unterstützer. Aber das Entscheidende ist die Wahrnehmung des Projektes. Hier handelt es sich um eine Aktion, die zu mehr Mitmenschlichkeit in der Region beiträgt. Wenn man ein krankes Kind, das in die Straßenbahn steigt, mit anderen Augen sieht und denkt: Hier helfe ich! Dann haben wir es geschafft. Oder noch mal zurück zu der Situation des behinderten Kindes und seiner Eltern auf dem Spielplatz: Die Frage lautet nicht mehr – muss das sein? Sondern nunmehr: Wie können wir ihnen helfen? Wie können wir Gemeinschaft leben?
Wie viele Spendengelder brauchen Sie?
Nagel: Wir sind uns sicher und hoffen, dass die Landesregierung mithelfen wird. Aber wir alle kennen die Lage der öffentlichen Haushalte. Deshalb ist es in diesen Zeiten wichtig, dass wir einen wesentlichen Betrag der 80 Millionen als Spenden aufbringen können.
Wann soll die Kinderklinik fertig sein?
Nagel: Mein Wunsch wäre, das wir im Jahr 2012 eine bedeutsame Summe und Unterstützung generieren, damit wir mit den Bauarbeiten noch im selben Jahr beginnen können. Es wäre schön, wenn wir im März 2015 in diese Kinderklinik einziehen. Aber dafür brauchen wir eine solide Finanzierung.
Für den Neubau soll es einen Architektenwettbewerb geben?
Nagel: Richtig. Der soll dazu beitragen, dass es die ideale Kinderklinik werden kann. Der Bau soll es ja ermöglichen, dass sich die Menschen in der Region damit identifizieren. Das ist ein hoher Anspruch. Der Neubau soll im Zentrum des Klinikgeländes entstehen. Wichtig ist, dass sich Kinder und Familien auch bei langen und wiederkehrenden Aufenthalten dort wohlfühlen. Nicht selten begleitet die Klinik ein Kind und seine Familie während der gesamten Kinder- und Jugendzeit. Da reichen keine schönen Bilder oder eine Spielecke - da ist mehr gefordert. Hinzu kommt, dass es kaum noch Neubauten von Kinderkliniken gibt. So dürfte diese Aufgabe auch für die Architekten eine besondere Herausforderung sein. Ich denke, dass wir im Frühjahr mit dem Wettbewerb beginnen können.
Wie wichtig ist es, dass Eltern auch in der Klinik leben können?
Nagel: Es ist schon angesprochen worden, dass wir heute bei der Behandlung von schwerkranken Kindern eine umfassende Integration der Familie anstreben. Eltern, Geschwisterkinder , bisweilen auch andere Verwandte. Sie müssen auf der einen Seite integriert werden, auf der anderen Seite dürfen sie z. B. bei den schwierigen Fragen von Infektionserkrankungen einem Patienten nicht zu nahe kommen.
Wird sich – was den familienorientierten Ansatz angeht - etwas für das Hundertwasserhaus, das nun Übernachtungen für Eltern von krebskranken Kindern anbietet, ändern?
Nagel: Nein. Im Gegenteil. Die bestehenden Institutionen sollten komplementär genutzt werden. Wir brauchen ja Strukturen, die wir haben, nicht neu zu schaffen. Nur: Bisher können wir nicht alle Kinder behandeln, die uns zugewiesen werden. In Zukunft sollten wir also mehr Kinder behandeln können. Wir werden alle mehr gefordert sein.
Was darf in der neuen Klinik nicht fehlen?
Nagel: Es gibt unterschiedliche Herausforderungen an eine gute räumliche Struktur in der neuen Kinderklinik. Die enge Verzahnung von Intensivstationen und Aufenthaltsräumen für Angehörige oder der gesamte Bereich einer kindgerechten Diagnostik. Dabei geht es nicht nur um ideale Abläufe, sondern auch um eine Raumstruktur, die Ängste reduziert. Wenn ein Raum es ermöglicht z. B. auf eine Narkose bei einer Untersuchung zu verzichten, dann ist dies nicht nur kindgerecht, sondern auch medizinisch ein großer Vorteil. Solche Anforderungen gibt es auch im Bereich der Ambulanzen. Schön wäre es, wenn es gelingt, hier geschützte Räume zu realisieren, die den notwendigen Besuch nicht als Strapaze erscheinen lassen. Und natürlich werden wir versuchen, viele heute noch über das Gelände verteilte Aufgaben im neuen Gebäude zu konzentrieren. Das Ziel lautet: Die Spezialisten kommen zu den Kindern in ihr Gebäude, in ihre kindgerecht Umgebung – Hochleistungsmedizin vor Ort.
Wird sich das auf die anderen Abteilungen auswirken?
Nagel: Ja, eine zentrale Kinderklinik entlastet viele andere Schwerpunktkliniken.
Sie wollen die modernste Kinderklinik Europas werden. Das ist ein enormer Anspruch.
Nagel: Diese Überschrift ist bei der Planung des Projekts entstanden .Wir haben uns angeschaut, welche medizinischen Leistungen wir für Kinder am Universitätsklinikum erbringen und wir haben festgestellt: Bereits heute ist die Universitätskinderklinik bei den Behandlungen mancher Krankheitsbilder in Deutschland oder gar Europa führend. Dies gilt für den Bereich der Transplantation oder auch in der Onkologie. Zum Beispiel wird in Essen die größte Patientengruppe in Europa mit bösartigen kindlichen Augentumoren behandelt. Also ist der formulierte Anspruch ein ganz realer. Wenn es uns gelingt, diese neue Kinderklinik, so wie wir sie jetzt planen zu realisieren, dann werden wir automatisch eine der führenden Institutionen in Europa oder weltweit sein. Und vor diesem Hintergrund wird auch noch einmal deutlich, warum dieses Projekt ein Projekt des Initiativ-Kreises, ein Projekt für das gesamte Ruhrgebiet darstellt.