Chichester. Eine neue Studie hat ergeben, dass das Grippemittel Tamiflu nicht so wirksam ist, wie zunächst vom Hersteller kolportiert. Doch damit nicht genug: Nun soll auch das Mittel schwere Nebenwirkungen haben. Experten meinen, dass Tamiflu damit als Notfall-Grippemittel nicht mehr geeignet sei.
Die bisher veröffentlichten Angaben zur Effektivität und Verträglichkeit des Grippemedikaments Tamiflu sind teilweise zu positiv. Das geht aus zuvor unveröffentlichten Unterlagen zu klinischen Studien des Pharmakonzerns Roche hervor. Forscher fanden in diesen Dokumenten deutliche Abweichungen zu den bisher veröffentlichten Angaben. Das Mittel ist demnach weniger wirksam und hat mehr Nebenwirkungen als vom Hersteller angegeben.
Obwohl in einigen Studien schwere Nebenwirkungen in Form von psychischen Beeinträchtigungen und Störungen des Nervensystems aufgetreten waren, sei dies nicht veröffentlicht worden, berichtet das internationale Forscherteam im Fachmagazin "Cochrane Database of Systematic Reviews". Stattdessen lese man in den beiden am meisten zitierten Veröffentlichungen: "Es gab keine durch das Mittel verursachten schweren Nebenwirkungen."
"Keinerlei Grundlage" für WHO-Empfehlung
"Aufgrund der WHO-Empfehlung haben Gesundheitsbehörden weltweit Milliarden Euro ausgegeben, um Tamiflu zu kaufen und für den Epidemiefall einzulagern", sagen die Forscher. Sie hatten für ihre Auswertung die Original-Studienprotokolle bei der Herstellerfirma angefordert sowie Unterlagen geprüft, die Roche bei Behörden eingereicht hatte.
"Für Ausagen, nach denen Tamiflu die Übertragung des Influenza-Virus hemmen und schwere Komplikationen bei Grippepatienten verhindern soll, haben wir in den von uns geprüften Daten keinerlei Grundlage gefunden", schreiben Tom Jefferson von der Cochrane Collaboration in Rom und seine Kollegen. Genau diese vom Hersteller proklamierten Effekte seien aber der Grund, warum die Weltgesundheitsbehörde WHO Tamiflu als Notfall-Grippemittel bei Epidemien und Pandemien empfehle.
Genauso viele Krankenhaus-Einweisungen
Aus den unveröffentlichten Daten geht unter anderem hervor, dass nach einer Tamiflu-Behandlung genauso viele Patienten wegen einer Lungenentzündung und anderer Komplikationen in Krankenhäusern behandelt werden mussten, wie ohne Behandlung mit dem Grippemittel. Außerdem haben die Forscher Abweichungen in den Angaben darüber entdeckt, wie viele Teilnehmer der Studien tatsächlich mit Grippe infiziert waren.
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Es gebe Hinweise dafür, dass Tamiflu die Antikörper-Produkion gegen Influenza beeinflusse, schreiben die Wissenschaftler. Da eine Grippeinfektion anhand solcher Antikörper nachgewiesen wird, seien Patienten möglicherweise falsch zugeordnet worden. Das könnte auch die Ergebnisse verfälscht haben.
60 Prozent der Studiendaten nicht veröffentlicht
60 Prozent der Daten über klinische Studien der Phase III seien niemals veröffentlicht worden, berichten die Wissenschaftler. Phase III umfasst die letzten und umfangreichsten Studien vor Zulassung eines Medikaments. In diesen wird unter anderem die Wirksamkeit gegenüber einem wirkstofflosen Placebo getestet. Unter den unveröffentlichten Daten seien auch die Ergebnisse der größten jemals durchgeführten Tamiflu-Studie an 1.400 Menschen aller Alterstufen.
Auch für die aktuelle Auswertung habe man noch nicht alle Daten vom Hersteller erhalten. "Wir haben Sorge, dass diese Daten der wissenschaftlichen Gemeinschaft verschlossen bleiben und damit auch nicht überprüfbar sind", sagt Jefferson. Bei einem Medikament mit dieser Bedeutung im Seuchenfall sei es jedoch notwendig, alle Belege zu positiven und negativen Wirkungen unabhängig zu prüfen. Nur dann könne man ein vollständiges Bild darüber gewinnen, wann und für wen ein solches Mittel sinnvoll einzusetzen sei. (dapd)