Bochum/Dortmund. An den Unis im Ruhrgebiet demonstrieren Tausende Studenten für eine bessere Zukunft - doch viele von ihnen haben eigentlich keine Zeit, sich dagegen zu wehren, dass sie keine Zeit mehr haben. Hier erzählen fünf, warum sie trotzdem auf die Straße gingen.

Patrick Doodt hat Mathe abgewählt. „Mathe war unmenschlich”, schlimmer noch: „In Mathe war man nur ne Matrikelnummer.” Er hat jetzt Philosophie und Psychologie, 20 Wochenstunden insgesamt, damit er in drei Jahren zum Bachelor kommt, mit Nacharbeiten 40 Stunden, 50, und er muss doch nacharbeiten: „Ich will doch nicht abschließen und hab gar nichts gelernt.”

Patrick Doodt, 21, kommt „vorne und hinten nicht nach”. 120 Euro Bafög plus 160 Euro Kindergeld minus 200 Euro Miete fürs Wohnheim, „das ist nicht sehr gut zum Essenkaufen”, sagt Patrick, und zum Studieren erst recht nicht: Das kostet in Dortmund 700 Euro, bloß die Gebühr.

„Man kauft das ja quasi”, sagt der Ahlener, und die Bildung ist es ihm sogar wert, nur die Umstände nicht: Patrick hat eine Freundin, die hat sich in Germanistik für 25 Kurse gemeldet, aber nur zwei bekommen. Seine Mutter sagt, er soll arbeiten gehen, „du hast doch an der Uni nicht viel zu tun”. Aber genau das ist das Problem dieses Protests: Es gehen so viele unter in der Fülle ihres Stundenplans, sagt Patrick, und deshalb auch nicht zur Demo. Sie haben keine Zeit zu ändern, dass sie keine Zeit haben. Absurd? In Dortmund haben sie den „Streik” auf den Nachmittag gelegt – vorher mussten sie studieren.

Es ist wie Schule

Anne Gerger ging schon einen längeren Weg, „deshalb bin ich so alt”, sagt die 24-Jährige: über das kaufmännische Fach-Abi und die Ausbildung zur Bürokauffrau, dann machte sie das Voll-Abi nach und studiert nun Geschichte und Archäologie. „Mich stört das ganze Bachelor-Master-System. Man hat festgeschriebene Module, ich bin interessiert an alter Geschichte und Mittelalter und werde gezwungen, Neuzeit mitzustudieren.” Auch gebe es zu wenige Lehrende, „die da sind, sind nicht schlecht, aber überfordert”.

Wegen der Anwesenheitspflicht sei „Geschichte bei uns wie in der Schule, wer zweimal unentschuldigt fehlt, ist raus”. Annes Fazit: „Uni ist kein gemeinsames Lernen, Uni ist Konkurrenzkampf geworden. Und die meisten denken, sie können eh nichts ändern.”

„Völlig verschult in den letzten Jahren, Seminare sind kleine Vorlesungen geworden”, sagt Benjamin Brill, der in Bochum Physik und Geschichte studiert und früher Maschinenbau: „Selbst im Maschinenbau konnte man noch mit den Dozenten reden und Fragen stellen, heute rattern die ihr Programm durch.”

Brill finanziert sein Studium mit wechselnden Jobs: „Meine Eltern verdienen zwar zuviel für Bafög, aber sie können mich auch nicht groß unterstützen.” Teilweise würden mit den Studiengebühren Tutorien finanziert, die früher das Land bezahlte, woraus er schließt: „Es ist nicht mehr Geld da, es zahlt nur jemand anders. Wir!”

80 Leute in Seminaren für 20

„Es gibt Seminare für 20 Leute, da wollen 80 rein, dann hört man drei Referate in 90 Minuten, man kann nichts diskutieren und nichts”, so Denise Welz, Sozialwissenschaften, fünftes Semester. Sie hat nach dem Abitur vier Monate in einer Aufzugsfabrik gearbeitet, um Geld für das Studium anzusparen: „Eigentlich sollte man in der Zeit überlegen können, was man studiert.”

Heute bügelt sie Hemden in einer Reinigung, um Geld zu verdienen: „Das schlägt auch auf die Motivation. Viele gehen gleichgültig über den Campus, gehen zur Vorlesung und fertig. Zuhören, auswändig lernen, wiedergeben, fertig.”

Finn Siebert hat lange gedacht, er schafft es auch so. Er hat es gehofft, und er hat es gut: Seine Eltern helfen, er hat eine Wohnung in Dortmund, „ich bin einer der Glücklichen”, sagt der 23-Jährige – aber im 7. Semester Informatik war das Geld endgültig alle. Da hatte er schon eine Auszeit genommen, war zwar an der Uni, aber nicht eingeschrieben; „nur kann man dann keine Prüfungen machen”. Andere haben in jener Phase kapituliert, Finn hat „viele Freunde, die gar nicht mehr studieren: Die brechen ab, weil sie es sich nicht mehr erlauben können.”

Es herrscht eine "Abhak-Mentalität"

Finn hat jetzt schon zweimal einen Kredit aufgenommen. Irgendwie sind Banknoten plötzlich wichtiger als Hochschul-Noten: „Ich kann da nicht mehr drauf achten, bestanden ist bestanden.” Und weitermachen! Finn nennt es die „Abhak-Mentalität”. Es geht nur noch ums „Schnell Fertigwerden”, um „Was-brauch-ich” und „Was-kann-ich-mir-leisten”. Hinter ihm haben Kommilitonen einen „Bildungs-Supermarkt” aufgebaut, aber Bildung ist „ausverkauft”.

Was das jetzt bringt mit dem Streik: „Vielleicht merken die, dass sie nicht alles machen können.” Immerhin sind sie hier auf der Straße, zum zweiten Mal dieses Jahr und jetzt bei der Kälte. Finn hofft: „Das werden die sich doch zweimal überlegen, bevor sie die nächste Verschlechterung einführen.” Die Studenten sind bescheiden geworden.