Düsseldorf. Integrationsrats-Chef Tayfun Keltek warnt, die Stimmung sei so bedrohlich wie einst vor den Anschlägen in Rostock, Mölln und Solingen.

Am Wochenende trafen sich die Interessenvertretungen von Migrantinnen und Migranten in NRW zur Jahresversammlung in Paderborn. Im Kontext der hitzigen Debatte in Deutschland über Zuwanderung und Integration berichtet der Vorsitzende des Landesintegrationsrates, Tayfun Keltek (76), im Gespräch mit Matthias Korfmann vor einer düsteren Stimmung unter vielen Zugewanderten, besonders unter Muslimen.

Herr Keltek, die Begrenzung von Zuwanderung, Antisemitismus und Islamismus sind dominante Themen in dieser an Krisen reichen Zeit. Was bewirkt das in NRW?

Tayfun Keltek: Ich mache mir große Sorgen. Aus der Sicht von Zugewanderten, besonders von Menschen muslimischen Glaubens, ist die gesellschaftliche Stimmung inzwischen ähnlich bedrohlich wie in den 1990-er Jahren. Damals kam es zu den schrecklichen rassistisch motivierten Taten in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen.

Wie reagieren Migranten darauf?

Tayfun Keltek: Ich spreche lieber von Menschen mit internationaler Familiengeschichte, und viele von ihnen ziehen jetzt sich ins Private zurück. Ihre Grundhaltung ist: Wir müssen aufpassen und äußern uns lieber nicht öffentlich.

Naja, es gibt schon Zugewanderte, die sich öffentlich äußern. Sie demonstrieren getrennt nach Geschlechtern, rufen nach einem Kalifat, hetzen gegen Juden und Israel…

Tayfun Keltek: Das stimmt, und der Landesintegrationsrat verurteilt Aufrufe zu Gewalt und Extremismus grundsätzlich. Das Problem ist aber, dass hier Äußerungen und Taten einiger weniger Menschen schnell auf alle Menschen islamischen Glaubens übertragen werden, und die Politik das zum Teil auch noch unterstützt. Das ist das Gefährliche. Nach Neonazi-Aufmärschen sagt man natürlich nicht, alle Deutschen seien Nazis. Laut dem Bundesinnenministerium gab es im Jahr 2021 bundesweit insgesamt rund 1600 politisch motivierte Straftaten vor dem Hintergrund einer religiösen oder ausländischen Ideologie. Aus dem rechten Spektrum heraus wurden aber fast 22.000 Straftaten erfasst, aus dem linken Spektrum etwa 10.000.

Das war 2021. Der Nahostkonflikt befeuert eine andere Entwicklung: Die NRW-Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte Anfang November, in NRW seien in den vier Wochen seit dem Beginn des Hamas-Terrors mehr als 380 antisemitische Vorfälle erfasst worden – fast viermal mehr als im ersten Halbjahr 2023.

Tayfun Keltek: Antisemitismus ist abscheulich. Ich will und kann das nicht entschuldigen, gebe aber zu bedenken, dass es Menschen aus Palästina in NRW gibt, die um das Leben ihrer Familien bangen. Diese Leute sind emotional sehr aufgewühlt.

Es gibt auch viele Jüdinnen und Juden in NRW, die um ihre Familien in Israel und um ihre eigene Sicherheit in NRW bangen. Auch sie sind emotional sehr aufgewühlt.

Tayfun Keltek: Genau. Der Landesintegrationsrat sagt daher, Beifalls- und Unterstützungsbekundungen für Angriffe jeder Art sind fehl am Platz.

Man könnte auch argumentieren, dass die Politik zu lange die Augen verschlossen hat vor religiösem Extremismus, Clan-Kriminalität, Parallelgesellschaften.

Tayfun Keltek: Das stimmt nicht. Die allermeisten Menschen mit internationaler Familiengeschichte in NRW sind gut integriert und berufstätig, und es irritiert sie zutiefst, dass sie so oft signalisiert bekommen, sie gehörten nicht dazu, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind.

Ist es nicht verstörend, dass einige Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund die Demokratie ablehnen, obwohl sie hier geboren sind und die Vorteile einer freien Gesellschaft genießen? Dass sie Autokraten wie Erdogan und Putin verehren?

Tayfun Keltek: Das ist in der Tat verstörend. Die überwiegende Mehrheit der Menschen mit internationaler Familiengeschichte in NRW denkt aber nicht so. Die leben ein normales Leben. Und viele von denen, die sich emotional von Deutschland verabschieden und ins Extreme abdriften, tun dies aus einem Gefühl fehlender Wertschätzung heraus. Sie meinen, sie könnten sich im Leben noch so anstrengen, wirklich willkommen seien sie hier aber nie. Das nutzen Verführer wie Erdogan und Putin aus.

NRW-Staatskanzleichef Nathanael Liminski (CDU) hat die Zusammenarbeit mit dem Moscheeverband Ditib beim islamischen Religionsunterricht an die Bedingung geknüpft, Ditib müsse sich von antisemitischen Aussagen von Staatspräsident Erdogan und des Chefs der türkischen Religionsbehörde Diyanet distanzieren. Muss man den Druck auf Ditib erhöhen?

Tayfun Keltek: Die Frage ist, ob das was bringt. Wenn der deutsche Staat erwartet, dass sich Ditib von Ankara abnabelt, dann müsste der Staat hier die Finanzierung des Verbandes übernehmen. Gäbe es dieses Angebot, dann würde das Bewegung in den Verband bringen, vielleicht würden auch frische Kräfte von außen dazu stoßen.

Zur Person:

Tayfun Keltek (SPD) engagiert sich seit den 1980-er Jahren dafür, dass Migrantinnen und Migranten in NRW ihre Interessen dort, wo sie wohnen, politisch ausdrücken können. Keltek gründete mit anderen Mitstreitern den Landesintegrationsrat, der zum Start im Jahr 1992 noch „Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in NRW“ hieß. Er setzte sich für die Stärkung der kommunalen Ausländerbeiräte (heute: Integrationsräte beziehungsweise Integrationsausschüsse) ein und arbeitet seit 1984 in der Leitung des Integrationsrates der Stadt Köln. Keltek arbeitete in Köln als Sportlehrer. Geboren wurde er in der Türkei.

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