Essen. „Ich werde den Kindern nicht gerecht“, sagt die angehende Gymnasiallehrerin Anna Winter. Weil Personal fehlt, muss sie an eine Grundschule.

Anna Winter und Lena Schmitz haben sich die kommenden Jahre anders vorgestellt. Die beiden wollen Lehrerinnen am Gymnasium werden. Die Arbeit mit älteren Kindern macht ihnen Spaß. Außerdem können sie am Gymnasium die Fächer unterrichten, in denen sie Expertinnen sind. Doch das geht vorerst nicht mehr. Von ihren Bezirksregierungen in NRW wurden die beiden an Grundschulen abgeordnet.

Die jungen Frauen sind laut NRW-Schulministerium zwei von insgesamt 3000 Lehrkräften in NRW, die auf sogenannten Vorgriffsstellen arbeiten. Denn ab dem Schuljahr 2026/27 werden zusätzliche Lehrerstellen an den Gymnasium in NRW nötig, wenn die Schulen vollständig zum G9-System zurückkehren. Das Abitur wird dann wieder nach 13 Jahren abgelegt. Bis die Lehrkräfte in drei Jahren also ihre Stellen am Gymnasium antreten können, werden sie an Schulen abgeordnet, an denen Lehrerinnen und Lehrer derzeit dringend gebraucht werden. Häufig handelt es sich dabei um Grundschulen.

>>> Lesen Sie hier das Protokoll einer jungen Lehrerin, die an eine Förderschule abgeordnet wurde.

An die Grundschule abgeordnet: „Mit kleinen Kindern bin ich überfordert“

Anna Winter beendet in ein paar Wochen ihr Referendariat, noch steht sie ohne Anstellung da. An dem Gymnasium in ihrem Bezirk sind keine Stellen mehr frei, erst in drei Jahren wieder. Sie hat die Möglichkeit, für die Zeit davor an eine Grundschule zu gehen, „doch davon habe ich keine Ahnung“, sagt die 26-Jährige. Schon einmal machte sie ein Praktikum an einer Grundschule. Und erinnert sich: „Ich habe hilflos vor der Klasse gestanden und war komplett überfordert mit den kleinen Kindern.“ Ab da stand für sie fest, dass sie niemals mit kleinen Kindern arbeiten wird. Doch wenn sie Lehrerin bleiben will, sieht sie sich nun dazu gezwungen.

Lena Schmitz ist schon seit über zwei Jahren auf einer solchen Vorgriffsstelle und fühlt sich einfach nur noch „ausgelaugt“. Eigentlich wollte sie nach ihrem Referendariat Vollzeit am Gymnasium unterrichten.„Aber als ich nach dem Referendariat nach Stellen gesucht habe, waren dabei fast immer Abordnungen an andere Schulformen vorgesehen“, sagt sie.

Jetzt ist sie für über fünf Jahre an zwei Schulen gleichzeitig tätig. An ihrem Wunschgymnasium und an einer Grundschule. Am Anfang habe sie die Doppelrolle bereichert – den Wissensstand ihrer Fünftklässler konnte sie aufgrund ihrer Erfahrungen mit Grundschülern besser beurteilen. Doch das viele Organisieren und das Gefühl, in beiden Schulen nicht richtig angekommen zu sein, „schlaucht nur noch“, sagt Lena Schmitz. „In Arbeitskreisen, die die Schulentwicklung betreffen, bin ich häufig außen vor. Das frustriert.“

Bildungsexpertin: „Abordnungen allein lösen das Problem nicht“

Die beiden jungen Frauen, die ihren richtigen Namen nicht öffentlich lesen möchten, haben sich schon oft gefragt, ob die Abordnungen Lehrerinnen und Lehrer eher aus dem Beruf vertreiben, als dass sie Personalprobleme lösen.

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Abordnungen allein lösten das Problem des Lehrkräftemangels nicht, sagt Ayla Celik, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW. Vielmehr verliere der Beruf dadurch für junge Menschen an Attraktivität. „Es braucht eine nachhaltige Lösung, die mit besseren Arbeitsbedingungen Hand in Hand gehen muss“, so Celik. Derzeit fehlen hierzulande mehr als 6700 Lehrkräfte.

Als eine kurzfristige Lösung sieht sie die Entlastung von Lehrkräften durch nicht-pädagogisches Personal, etwa bei Verwaltungsaufgaben. Um mehr Menschen in die Schulen zu bekommen, sei es zudem zwingend notwendig, ausländische Abschlüsse leichter anzuerkennen und berufsbegleitende Qualifizierungen schnell zu ermöglichen.

Junge Lehrerin: „Ich werde den kleinen Kindern nicht gerecht“

Der Verband Bildung und Erziehung in NRW begrüßt derweil die Abordnungen als eine „gute Übergangslösung“. Es sei besser, wenn Menschen mit Lehramtsstudium in Klassen unterrichteten, als Fachfremde oder gar niemand, betont die Vorsitzende Anne Deimel. „Dennoch kann ich gut verstehen, dass junge Menschen unsicher sind, wenn sie an einer anderen Schulform eingesetzt werden, die nicht ihren Wünschen entspricht.“

Ob die Abordnungen künftig dazu führen, dass Lehrkräfte aus ihrem Beruf rausgehen und sich der Personalmangel somit weiter verschärft, sei derzeit noch nicht abzusehen, so Deimel. Wichtig sei, die angehenden Lehrerinnen und Lehrer vorab zu qualifizieren und zu schulen, damit sie sich etwa in einer Grundschulklasse sicherer fühlen.

Bislang sind die Lehrkräfte, die an Grundschulen gekommen sind, dazu verpflichtet, sich im Bereich Grundschuldidaktik zu qualifizieren, heißt es vom Ministerium. Zudem sei es Aufgabe der Schulen, die neuen Lehrkräfte auf ihre Arbeit vorzubereiten.

Anna Winter fühlt sich auf die Arbeit mit Grundschülern jedoch nicht vorbereitet, ihre Qualifizierungskurse werden während ihrer Arbeit an der Grundschule stattfinden. „Ich habe gar keine Idee davon, wie ich kleinen Kindern Lesen und Schreiben beibringen soll“, sagt sie. Noch immer überlegt sie, ob sie den Job wirklich antreten soll. Denn, was sie macht, wolle sie richtig machen, sagt Winter. „Doch ich merke, dass ich den kleinen Kinder nicht gerecht werden kann.“

Wann sind Abordnungen erlaubt?

Unter welchen Umständen Lehrerinnen und Lehrer an andere Schulen abgeordnet werden dürfen, ist im Landesbeamtengesetz und im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder geregelt. Demnach dürfen Lehrer an andere Schulen versetzt werden, wenn an diesen Schulen aufgrund von Lehrermangel der Unterricht gekürzt werden müsste, erklärt Ayla Celik, Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft.

Welche Lehrkraft an welche Schule abgeordnet wird, werde immer im Einzelfall von der zuständigen Schulaufsichtsbehörde geprüft. Dabei sind laut Celik mehrere Faktoren entscheidend, die angeben, wie lange der Lehrermangel an einer Schule voraussichtlich besteht. Nicht immer sind mit Abordnungen Vorgriffsstellen gemeint, bei denen die Bewerber der zeitlich begrenzten Versetzung vertraglich zustimmen. Die Rechtslage erlaube auch, dass Lehrer ohne ihr Einverständnis abgeordnet werden dürfen, so Celik. Zum Beispiel, indem sie zwar in ihrer eigentlichen Schulform, aber nicht an ihrer Wunschschule eingesetzt werden.