Dortmund. Der kleine Fahri aus Dortmund besucht statt der Schule ein Jugendzentrum. Andere Kinder spielen derweil auf der Straße. Die Hintergründe.

„Welche Farbe hat das Viereck?“ Dana El-Lahib steht vor Grundschulkindern und hält einen Zettel hoch. Die Kinder strecken ihre Finger in die Luft – nur Fahri nicht. Er überlegt angestrengt, schaut hilfesuchend in die Runde. Fahri ist noch nicht lange in Deutschland, das Sprechen fällt ihm schwer. „Ist es vielleicht grün, blau oder rot?“, fragt El-Lahib und lächelt ihm aufmunternd zu. Plötzlich schlägt Fahri sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Blau“, ruft er und strahlt.

Wer nun die Situation einer gewöhnlichen Schulstunde vor Augen hat, der täuscht sich. Obwohl der Junge schulpflichtig ist, hat Fahri keinen Schulplatz bekommen. Deshalb sitzt er gemeinsam mit anderen neu zugewanderten Kindern im Jugendzentrum „Nordtreff-Arakasamen“ in Dortmund bei Betreuerin Dana El-Lahib.

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GrünBau, der soziale Träger des Projekts, bietet 15 Kindern in Kooperation mit der Stadt einen Ersatz. Kinder wie Fahri sind hier täglich von 8 Uhr bis 12.30 Uhr in einer Gruppe. Sie spielen, sprechen, lernen. Den Unterricht auf einer Schule kann das „Nordtreff-Arakasamen“ natürlich nicht ersetzen.

Zugewanderte Kinder warten in Dortmund bis zu 50 Tage auf einen Schulplatz

In Dortmund fehlen derzeit rund 270 Schulplätze, 75 davon in der Grundschule, sagt Kahraman Hastürk, Sozialpädagoge bei der Stadt. Der Treff in der Innenstadt-Nord soll zur Überbrückung dienen, bis die Kinder einen Platz bekommen haben. Doch das kann dauern – bis zu 50 Tage warten neu zugewanderte Kinder in Dortmund im Schnitt. Es kam auch schon vor, dass ein Kind knapp ein Jahr lang den Nordtreff statt eine Grundschule besuchte. Dabei gilt für Kinder von Zugewanderten laut NRW-Schulministerium gesetzlich die Schulpflicht, sobald sie einer Kommune zugewiesen sind.

Nicht nur in Dortmund fehlen Plätze. In Duisburg etwa fehlten im vergangenen Jahr nach Ausbruch des Ukraine-Krieges rund 1100 Schulplätze, sagt Rüdiger Wüllner, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Duisburg. Diese Zahl sei mittlerweile aber deutlich zurückgegangen.

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2700 Kinder und Jugendliche warten in NRW auf einen Schulplatz

„Doch noch immer platzen in vielen Kommunen die Schulen derzeit aus allen Nähten“, betont Birgit Völxen von der Landeselternschaft der Grundschulen in NRW. Das zeigen auch Zahlen des Landes: Im Mai 2022 warteten in NRW insgesamt über 8500 neu zugewanderte Kinder und Jugendliche auf einen Schulplatz. Derzeit sind es noch über 2700 junge Menschen.

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Die konstant hohe Migration in einigen Kommunen sei dabei nur einer der Gründe, sagt Birgit Völxen. Sanierungsstau und fehlende Flächen etwa bereiteten dem Bildungssektor schon lange Sorgen. Hinzu kommt die hohe Geburtenrate in den vergangenen Jahren. „Das wurde von der Politik nicht mitgedacht. Und wir sind noch lange nicht am Ende. Durch die Klimakrise und die Kriege in der Welt wird sich die Situation verschärfen“, warnt Völxen.

„Kinder verlieren den Anschluss an die Gesellschaft“

Was macht es mit Kindern wie Fahri, die teils mehrere Monate auf einen Schulplatz warten?

Leonie Herrmann, Teamleitung vom Nordtreff-Arakasamen, bekommt den Frust vieler Eltern und ihrer Kinder täglich mit. „Je länger die Kinder auf einen Schulplatz warten, desto mehr verlieren sie den Anschluss an die Gesellschaft, fühlen sich ausgeschlossen. Sie sehen ja, dass andere Kinder auch zur Schule gehen“, sagt Herrmann. Der Jugendtreff sei zwar ein Ort, an dem die geflüchteten Kinder ankommen können, und lernen, sich in einer Gruppe zurecht zu finden. Jedoch dürfe er nicht „zum Abstellgleis“ werden, warnt sie.

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Zudem sind die Plätze im Nordtreff begrenzt. So müssen Herrmann und ihr Team Kinder oft wieder wegschicken. Einige von ihnen treffen sie wieder – spielend auf der Straße. Die Dortmunder Nordstadt, der Stadtteil, in dem viele Kinder aus dem Ausland ankommen, brauche deshalb dringend weitere Schulplätze.

Dortmund will neue Grundschule bauen

Fahri muss nicht auf der Straße spielen. Er sitzt mit den anderen Kindern beim Frühstück und versucht lauthals allen einen „Guten Appetit“ zu wünschen, während er Florin und Suzana an den Händen hält. Das Frühstück gibt ihm und den anderen Sicherheit und Routine, „die viele geflüchtete Kinder zuvor nicht hatten“, sagt Leonie Herrmann.

Leonie Herrmann ist Teamleiterin vom Nordtreff-Arakasamen in Dortmund.
Leonie Herrmann ist Teamleiterin vom Nordtreff-Arakasamen in Dortmund. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Stadt hat deshalb noch ein ähnliches Projekt ins Leben gerufen, bei dem Kinder, die noch keinen Schulplatz haben, betreut werden. Zudem werden einige der zugewanderten Kinder bereits mit Bussen in andere Stadtteile gebracht und dort beschult. Alte Gebäude werden bereits restauriert, damit sie wieder für den Unterricht genutzt werden können, sagt Kahraman Hastürk. Auch will die Stadt eine neue Grundschule im Norden bauen. Doch bis dort Unterricht stattfindet, wird es noch dauern – so wie vermutlich auch Fahris Suche nach einem Schulplatz.

So unterstützt das Land

2022 und 2023 wurden zur Sicherstellung der Unterrichtsversorgung geflüchteter Schülerinnen und Schüler 4314 neue Stellen geschafft. Schulen haben vom Land zudem die Möglichkeit erhalten, befristet Lehrkräfte einzustellen – 1303 Stellen wurden so vergeben.

Die Zuweisung eines Schulplatzes für schulpflichtige Kinder und Jugendliche erfolgt in einem abgestimmten und zeitnahen Verfahren durch die zuständigen staatlichen Schulämter in der Regel nach vorheriger Beratung durch das örtliche Kommunale Integrationszentrum (KI), das in einem Beratungsgespräch auf die individuelle Bildungsbiografie der ankommenden Kinder und Jugendlichen eingeht, heißt es vom NRW-Schulministerium.