Gelsenkirchen. Massive Sprachprobleme, wenig Förderung durchs Elternhaus: Warum sich eine Pädagogin trotzdem an einen Gelsenkirchener Brennpunkt versetzen ließ.

Eine Grundschule in Gelsenkirchen, und dann auch noch an einem sogenannten „sozialen Brennpunkt“? Wo 95 Prozent der Schülerschaft einen Migrationshintergrund hat, viele die deutsche Sprache nicht richtig beherrschen und Unterrichtsstoff auch mal pantomimisch vermittelt werden muss? Ja, genau dorthin hat sich eine Lehrerin bewusst versetzen lassen. Und würde es immer wieder tun.

Heike Müller (Name geändert) ist mit ihren 51 Jahren das, was man eine erfahrene Pädagogin nennt: Sie hat lange Jahre an einer Grundschule in einem gutbürgerlichen Quartier Gelsenkirchens gearbeitet mit nicht wenigen Akademiker-Kindern, die von den Eltern ebenso gefördert wie gefordert wurden. „Dann wollte ich mal etwas Neues machen“ – und sie entschied sich vor einigen Jahren für den Sprung aus der Komfortzone.

Sie landete im Stadtsüden auf einem harten Pflaster. „Dort sind spürbar mehr I-Dötze als an meiner alten Schule nicht in der Lage, einen Stift zu halten, mit einer Schere zu arbeiten oder eine Schleife zu binden. Das erschwert natürlich vieles. Erst seit Beginn dieses Schuljahrs haben wir Alltagshelfer, die dabei unterstützen.“

Das größte Problem seien die mangelnden Sprachkenntnisse. „Es gibt tatsächlich Kinder, die nicht in der Kita waren und kaum ein Wort Deutsch verstehen. Selbst wenn sie wollen, sie können dem Unterricht gar nicht folgen.“

Bis zu einem Drittel der Erstklässler kann Unterricht nicht folgen

Diese „Härtefälle“ – mitunter bis zu einem Drittel der Erstklässler an ihrer Schule – erhalten dann einen Erstförderstatus, der den Spracherwerb ins Zentrum stellt und ihnen den Druck nimmt, in der vorgeschriebenen Zeit den Anforderungskatalog des Lehrplans erfüllen zu müssen. „Sie nehmen dann an allen Unterrichtsstunden normal teil, werden aber zusätzlich speziell gefördert“, so Heike Müller.

Die entsprechenden Kinder dafür aus dem Klassenverband herauszunehmen und von einer anderen pädagogischen Kraft in einem gesonderten Raum zu unterrichten, gestaltet sich aber häufig schwierig – aufgrund der dramatischen Raumnot.

„Die Schülerzahlen sind in den vergangenen Jahren so angestiegen, dass wir mehr Klassen bilden mussten und nun so gut wie nie einen Raum übrig haben. Oft müssen diese Kinder also in einer Ecke des Zimmers gefördert werden.“ Sprich: Das Ablenkungspotenzial ist groß, für beide Schülergruppen, erst recht, wenn die Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt ist. Ob nun aufgrund ausgefallenen Frühstücks, schlechter Tagesform oder grundlegender Konzentrationsproblematiken.

„Katastrophal“ sei auch der Lehrermangel. „Wir kriegen einfach kein Personal für die ausgeschriebenen Stellen. Viele Lehrerinnen und Lehrer möchten nicht in Gelsenkirchen arbeiten. Aber es sind auch einfach zu wenige Lehrer auf dem Markt.“

Immer wieder fehlen Kinder ohne Abmeldung im Unterricht

Die Folge: Das Kollegium ist so knapp besetzt, dass die Klassen bei Krankheitsfällen aufgeteilt und gruppenweise in anderen Klassen und Jahrgangsstufen unterrichtet werden müssen. Im gerade gestarteten neuen Schuljahr hofft Heike Müller, dass die befristeten Abordnungen aus anderen Städten ausreichen, um solche Maßnahmen zu verhindern. „Wir sind jedenfalls ausgesprochen dankbar für die neuen Kolleginnen und Kollegen. Sie waren dringend nötig! Wir können jetzt wieder die Minimal-Stundentafel unterrichten.“

Zum mühsamen Alltagsgeschäft zählt auch, dass fast jeden Tag überraschend ein bis drei Kinder in der Klasse fehlen – weil sie von ihren Eltern offenbar nicht zur Schule geschickt bzw. als krank abgemeldet werden. „Dann beginnt für uns eine aufwendige Recherche. Oft sind die angegebenen Telefonnummern nicht mehr aktuell oder die Familie ist umgezogen, manchmal hat sie Gelsenkirchen verlassen, ohne das Kind abzumelden“, berichtet sie.

Hausbesuche bei den Eltern sind das Alltagsgeschäft der Gelsenkirchener Lehrerin

Wenn kein telefonischer Kontakt zustande kommt, macht Heike Müller Hausbesuche, meist mit dem Schulsozialarbeiter. Dass Kinder in Deutschland täglich zur Schule gehen müssen und nur bei Krankheit (abgemeldet) fehlen dürfen: Das sei einigen Eltern nicht klar, wenn sie aus einem Land stammen, in dem die Schulpflicht lascher gehandhabt wird. Für manche Eltern hat schulische Bildung einen geringeren Stellenwert. „Deshalb müssen wir manchmal auch das Jugendamt einschalten.“

Aufwand hin, Mühe her: „Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Das alles kannte ich aus meinem Referendariat“, mag die 51-Jährige nicht jammern. Ihre Erfahrung ist, dass die allermeisten Eltern das Beste für ihre Kinder wollten. „Gerade Familien aus sogenannten schwierigen Verhältnissen nehmen unsere Beratungs- und Förderangebote dankbar an.“

Im Brennpunkt gibt’s mehr Fälle von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung

Trotzdem nehme sie so manches mit nach Hause, was an einer solchen „Brennpunkt-Schule“ ausgeprägter sei als etwa an ihrer alten Schule: Dass Kinder so gar kein Frühstück dabei haben, komme häufiger vor. „Normalerweise teilen die Schüler dann ihre Brote. Einmal bin ich auch zum Bäcker gegangen und habe für ein Kind etwas zu essen geholt.“

Nachweisliche Gewalt und Missbrauch kämen nicht häufiger vor, „wohl aber Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung, die sich in unregelmäßigem Schulbesuch, häufiger Unpünktlichkeit und mangelnder Körperhygiene zeigen. Zum Glück ist da aber zumeist das Jugendamt schon mit Familienhilfen eingebunden, die wir dann beratend unterstützen.“ Also betreut sie als Lehrerin mitunter auch die Mütter und Väter? „Das kann schon mal vorkommen, ja“, sagt sie.

Nicht alle Kinder mit Potenzial „retten“ zu können, schmerzt Gelsenkirchener Lehrerin

Und räumt ein: Nicht alle Kinder mit Entwicklungspotenzial „retten“ zu können, „das tut schon weh“. Umso schöner seien Erfolgserlebnisse, wenn es Schülerinnen und Schüler mit anfangs großen Problemen aufs Gymnasium schaffen. „Insgesamt schicken wir nicht weniger Kinder aufs Gymnasium als andere Schulen. Intelligenz ist völlig unabhängig von der Sprache. Umgekehrt gibt es auch muttersprachliche Kinder aus guten Verhältnissen, deren kognitive Möglichkeiten begrenzt sind“, so ihre Erfahrung. „Jedes Kind hat eine Chance verdient.“

Ob sie ihre Entscheidung bereut hat, an eine Brennpunkt-Schule gewechselt zu sein? „Niemals!“, betont sie mit Nachdruck. „Hier werde ich wirklich gebraucht. Wir Lehrende geben Kindern aus schwierigeren Verhältnissen Struktur, wir sind positive Vorbilder, manchmal die einzigen in ihrem Umfeld.“ Wenn die Schüler sie morgens früh anstrahlen, weil sie sich freuen, sie wiederzusehen, Aufmerksamkeit zu bekommen und bei auch noch so kleinen Erfolgen gelobt zu werden: „Das ist ein ganz tolles Gefühl!“

Wie Chancengleichheit kurzfristig verbessert werden kann: Vorschläge aus Gelsenkirchen

An welchen Stellschrauben gedreht werden sollte, um die Chancengleichheit kurzfristig zu erhöhen? „Jede Schule bräuchte einen eigenen Schulsozialarbeiter für Hausbesuche und Fördermöglichkeiten sowie mehr Sozialpädagoginnen und -pädagogen“, sagt Heike Müller. Es müsse mehr (durchaus verbindliche) vorschulische Angebote geben, um Kinder schulfähig zu machen.

Für die nun eingeführte verbindliche Lesezeit von täglich 20 Minuten müsste die Stundentafel erhöht werden, damit unter dieser „an sich richtigen Fördermaßnahme“ nicht andere Fächer leiden. „Wir bräuchten auch nicht nur mehr Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch Schulverwaltungsassistenten, die die Kollegien bei der Schulleitung und Digitalisierung entlasten.“

Für die weiteren notwendigen Schul-, Neu- und Erweiterungsbauten brauche so eine Kommune wie Gelsenkirchen zudem mehr Geld von außen. „Nur wenn wir die besten Schulen mit der besten Ausstattung haben, sind wir attraktiv für Lehrkräfte auf Stellensuche.“