Essen. Raus aus dem „Brennpunkt“, rein in ein besseres Viertel: Wie eine Familie ihr Leben auf den Kopf stellt – für die Grundschule der Tochter.

Ihre kleine Tochter (5) soll es besser haben. Sie soll auf einer „guten Schule“ lernen. Deshalb sind Sonja Winter und ihr Mann von einer lauten Hauptstraße, engen Gassen und hohen Häusern, in denen viele Menschen unterschiedlichster Nationen wohnen, in ein ruhiges Wohnviertel gezogen, in dem viele junge Familien leben. Vom ehemaligen Gelsenkirchener Problem-Viertel Ückendorf hin zum bürgerlichen Stadtteil Bochum-Weitmar: Sonja Winter und ihre Familie haben ihr altes Leben hinter sich gelassen.

„In unserer Nachbarschaft in Ückendorf haben wir uns nicht wohl gefühlt“, sagt Winter, die ihren richtigen Namen nicht öffentlich lesen will. Sie erzählt von einem Flohmarkt, den sie einmal vor der Haustür veranstaltete. Nur für fünf Minuten habe sie den Stand aus den Augen gelassen, weil sie noch einmal hoch in die Wohnung musste. „Als ich wiedergekommen bin, waren die Sachen weg.“

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Auch von der Grundschule um die Ecke hat die 41-Jährige „nichts Gutes“ gehört. Neulich erzählte ihr eine Grundschulmutter, dass ihr Sohn bereits auf dem Schulweg von seinen Klassenkameraden angepöbelt wird. Zudem hätten die meisten Kinder Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Winter hat die Sorge, dass ihre Tochter hier nicht ausreichend gefördert wird, vielleicht keinen Anschluss findet. Außerdem wünscht sie sich einen guten Kontakt zu den anderen Eltern, bei denen ihre Tochter bleiben kann, wenn sie etwa länger auf der Arbeit braucht. „Als es also um die Wahl der Schule ging, stand für uns fest: wir müssen umziehen.“

Anmeldung Grundschule: Kinder im Schuleinzugsgebiet werden bevorzugt

Vielen Familien geht es ähnlich, denn sie wünschen sich das beste Umfeld für ihre Kinder – wer will es ihnen verdenken? Die Schulanmeldungen für das kommende Jahr laufen, jetzt müssen Eltern entscheiden, wo ihr Kind die nächsten vier Jahre lesen, schreiben und rechnen lernen soll und dabei möglichst gut gefördert wird.

Manche Eltern pendeln daher mit ihrem Kind in ein „besseres“ Stadtviertel, einige nehmen sogar einen Umzug in Kauf, denn grundsätzlich gilt in NRW zwar die freie Schulwahl. Dennoch werden meist die Kinder bevorzugt, die im Schuleinzugsgebiet leben. Derzeit besuchen knapp 700.000 Kinder eine von rund 2800 Grundschulen.

Bildungserfolg hängt von Umfeld der Kinder ab

Dass die Auswahl der Grundschule eine Entscheidung von großer Tragweite ist, bestätigen viele Untersuchungen. Sie zeigen, dass der Bildungserfolg in einem engen Zusammenhang steht mit der sozialen Herkunft und dem Umfeld der Kinder.

„Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass die schulische Bildungsbeteiligung sozialräumlich ungleich ist“, sagt der Bochumer Sozialwissenschaftler Prof. Jörg-Peter Schräpler vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (Zefir) der Ruhr-Uni. Kurz: Wer in einem problematischen Viertel aufwächst, hat es schwerer.

Schulforscher: Problem hat sich „zementiert“

Einen Beleg dafür liefern die Übergangsquoten von der Grundschule auf das Gymnasium, die Schräpler in einer kleinräumigen Analyse untersucht hat. Je nach Stadtviertel schwanken die Werte stark, fand er heraus. So gehen beispielsweise im wohlhabenden Essener Süden bis zu 90 Prozent Kinder nach der Grundschule auf ein Gymnasium, also fast jedes. In manchen nördlichen Stadtteilen sind es hingegen nur rund 18 Prozent.

In Dortmund variiert die Übergangsquote je nach Stadtviertel zwischen 20 und 82 Prozent, in Bochum zwischen 25 und 73 Prozent. In Gelsenkirchen nur zwischen 17 und 40 Prozent. Die Wissenschaft spricht angesichts dieser Spaltung von „Bildungssegregation“. Dieser Trend sei zwar nicht neu, aber „das Problem hat sich zementiert“, sagt Schulforscher Schräpler. Viele Eltern wissen, dass die Schulwahl über den Bildungserfolg ihrer Kinder mitentscheidet und „stimmen mit den Füßen ab“.

Kinder der einzelnen Stadtteile bleiben unter sich

Allerdings schränke die hohe Anzahl von angemeldeten Erstklässlern die Option der freien Schulwahl zuletzt wieder stark ein, teilt die Stadt Essen mit. Dadurch finden nicht alle Kinder an den von den Eltern gewünschten Schulstandorten einen Platz. Genaue Zahlen darüber, wie viele Kinder zur Schule in andere Stadtviertel pendeln, gebe es nicht. Die Stadt geht aber davon aus, dass dies „in einigen Fällen“ geschieht.

Der Solinger Schulforscher Thomas Groos geht davon aus, dass etwa 40 Prozent der Kinder nicht die Grundschule in ihrem direkten Einzugsgebiet besuchen. „Dieser Befund ist sehr stabil, dabei spielt aber auch die Aufnahmekapazität der Schulen eine Rolle“, sagt er.

Seit die Schulbezirke im Jahr 2008 von der damaligen schwarz-gelben Landesregierung aufgehoben wurden, hat die Debatte darüber nicht nachgelassen. Kritiker warnen vor Schultourismus durch die Stadtgebiete, vor Ghetto-Schulen und sozialer Auswahl vor dem ersten Schultag.

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Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung am Beispiel der Stadt Mülheim kam nach der Auswertung der Daten von rund 4000 Schülerinnen und Schülern 2016 zu dem Ergebnis: „Die von vielen Experten geäußerten Befürchtungen haben sich bestätigt“, so Studienautor Thomas Groos. „Es hat eine zusätzliche soziale Entmischung stattgefunden.“ Die Kinder der einzelnen Stadtteile bleiben also unter sich, die soziale Trennung wurde stärker.

Grundschulmutter: „Seit dem Umzug bin ich optimistisch“

Groos fand heraus, dass Eltern mit niedrigerem Bildungsstatus oder mit Migrationshintergrund häufiger die nächstgelegene Grundschule wählen. „Diese Familien sind in der Regel weniger mobil und bleiben meist in ihrem Wohnbezirk.“ Vor allem Eltern aus der Mittelschicht, wie zum Beispiel Sonja Winter und ihre Familie, nehmen demnach die freie Schulwahl in Anspruch, während sich für Familien in den besten Vierteln das Problem meist gar nicht stellt: Das Einzugsgebiet der nächsten Grundschule entspricht ja meist ihren Ansprüchen.

Eine aktuelle Untersuchung der Düsseldorfer Wübben Stiftung Bildung untermauert den Befund. Demnach erreichen an Grundschulen in sozialen Brennpunkten besonders viele Kinder die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht, ergab eine regionale Auswertung auf Basis des IQB-Bildungstrends.

Für Sonja Winter und ihren Mann ist es wichtig, dass ihre Tochter mit Kindern in eine Klasse geht, die auf einem ähnlichen Lern- und Sprachniveau sind wie sie. „Schließlich soll sie gefördert werden.“ Außerdem wünscht sie sich, dass ihre Tochter morgens eigenständig zur Schule laufen kann, schnell Anschluss findet und sich in der Klasse wohlfühlt. „Seit dem Umzug bin ich optimistisch“, sagt Winter.