Essen. Die Ruhrgebietsstädte kommen bei der Lösung ihrer Finanzprobleme nur mühsam voran. Und nun drohen auch noch Rückschläge.

Geflickte Straßen, holprige Gehwege, marode Gebäude, ungepflegtes Grün: Zugegeben, nicht überall sieht es im Ruhrgebiet so aus. Aber in der Wahrnehmung vieler Menschen kann die selbst ernannte Metropole Ruhr mit manchen der pittoresk bis mondän herausgeputzten Stadtbildern in anderen Teilen der Republik einfach nicht mithalten.

Kommunalfinanzbericht des Regionalverbandes Ruhr

Wer nach Gründen sucht, warum das Ruhrgebiet vom Eindruck einer blühenden Stadtlandschaft augenscheinlich so weit entfernt ist wie Neuschwanstein von der Schwerindustrie, sollte sich zumindest vorübergehend mit Begriffen wie Primärsaldo, Spitzenlastproblem und Plateaueffekt einlassen. Auf sie stößt man im Kommunalfinanzbericht des Regionalverbandes Ruhr – ein trockenes Zahlenwerk, das der RVR alljährlich erstellen lässt. Autor ist Martin Junkernheinrich, gebürtiger Essener und Professor an der TU Kaiserslautern.

Schuldenlast im Ruhrgebiet erdrückend hoch

Die Tabellen, Diagramme und Berechnungen des renommierten Finanzwissenschaftlers und seines Mitarbeiters Gerhard Micosatt sagen jedoch viel über die Lebenswirklichkeit im Revier aus. In der vergangenen Woche sorgte der RVR-Bericht 2022 für Gehör, weil er die hoffnungslose Überschuldungssituation der meisten Ruhrgebietsstädte erneut ins Schaufenster stellte. Trotz einiger eigener Erfolge der Kommunen bei der Rückzahlung der milliardenschweren Kassenkredite in jüngster Zeit bleibt die Schuldenlast im Ruhrgebiet erdrückend hoch. Den Städten im Revier werde es aus eigener Kraft nicht gelingen, die Schulden signifikant abzutragen, heißt es in dem Papier. Bei den aktuell steigenden Zinsen bleibe der bundesweit einmalige Kreditberg ein Mühlstein am Hals der Revierkommunen.

Hohe Sozialausgaben

Städte wie Mülheim oder Witten bereiten sich bereits auf Zinssprünge ihrer zeitlich gestaffelten Kassenkredite vor und stellen sich darauf ein, mittelfristig Millionenbeträge aus dem laufenden Haushalt ausschließlich für Zinszahlungen abzweigen zu müssen. In den Null-Zins-Jahren gab es die Kredite praktisch kostenlos. Wittens Kämmerer Matthias Kleinschmidt warnte angesichts der Entwicklung in der WAZ bereits vor einem drohenden Investitions- und Sanierungsstopp für die öffentliche Infrastruktur.


Unterstützung für die Dauerforderung von Rathauschefs aus der Region nach einer raschen Lösung des Altschuldenproblems kommt aktuell auch von der Fraktion der Linken im Ruhrparlament. Wegen der steigenden Zinsen könne der Abbau von Altschulden nicht mehr lange fortgesetzt werden, betonte Linken-Fraktionschef Wolfgang Freye. Investitionen aus eigener Kraft seien für die Kommunen bei der gegenwärtigen Finanzlage kaum noch zu stemmen.

Schuldenlast aus eigener Kraft gesenkt

Laut NRW-Kommunalministerium konnten die Kommunen allerdings ihre Altschuldenbelastung in den vergangenen Jahren aus eigener Kraft deutlich reduzieren. Ende 2016 summierten sich die nicht durch Investitionen ausgelösten Kassenkredite noch auf nahezu 28 Milliarden Euro. Zum 31. Dezember 2021 – dem letzten Erhebungstag – lagen die Verbindlichkeiten fast sechs Milliarden Euro und damit mehr als 20 Prozent unter diesem Höchstwert. Gelungen sei der Altschuldenabbau sogar in den Corona-Jahren 2020 und 2021.

Investitionsschwäche der Kommunen

Eine weitere Belastung sind die nach wie vor überdurchschnittlich hohen Sozialausgaben. Laut Kommunalfinanzbericht liegen sie pro Einwohner bei 989 Euro, im übrigen NRW dagegen nur bei 711 Euro und in den westdeutschen Flächenländern durchschnittlich bei 708 Euro. Ruhrgebietskommunen müssen also deutlich tiefer in die Tasche greifen, wenn es um Leistungen wie Grundsicherung, Kinder- und Jugendhilfe oder Leistungen für Asylbewerber geht. Die jährliche Mehrbelastung des Ruhrgebiets summiert sich nach Berechnungen von Prof. Junkernheinrich auf imposante 1,43 Milliarden Euro – Geld, das den Revierstädten im Vergleich zu westdeutschen Durchschnittskommunen für andere Zwecke fehlt.

Städte können nur wenig investieren

Das wiederum führt zu einem anderen großen Problem des Ruhrgebiets: die Investitionsschwäche der Kommunen. Die Berechnung der Investitionstätigkeit der Städte ist kompliziert. Es müssen Eigenleistungen und Investitionszuschüsse berücksichtigt werden. Alles entscheidend aber sind die Überschüsse im so genannten Primärsaldo der städtischen Haushalte. Dieser Wert lag im Jahr 2021 im Ruhrgebiet pro Kopf bei 190 Euro. Im Durchschnitt der westdeutschen Flächenländer ist er mit 352 Euro fast doppelt so hoch. Kurz gesagt: Westdeutsche Kommunen außerhalb des Ruhrgebiets können im Schnitt deutlich mehr Geld für Investitionen etwa in Schulgebäude ausgeben.

Kernproblem der finanziellen Gesundung

Dieser Investitionsrückstand des Ruhrgebiets ist ein Kernproblem in der finanziellen Gesundung der Region, auch weil er über die Jahre immer größer geworden ist. Linken-Politiker Freye fürchtet sogar, dass der Investitionsrückstand der ganzen Region gegenüber anderen wieder wachsen wird. Kleiner Lichtblick: Ausgerechnet im Krisenjahr 2021 konnte der Rückstand erstmals wieder leicht reduziert werden. Die Investitionen wuchsen um rund 17 Euro pro Einwohner an, während sie in den westdeutschen Flächenländern um knapp fünf Euro zurückgingen. mit steh