Düsseldorf. Für Kinder- und Jugendmediziner in NRW kommt es knüppeldick: Viele Patienten, krankes Personal und “unnötige“ Atteste für Schulen.

Die Wartezimmer sind „rappelvoll“: In Gelsenkirchen, Bottrop, Essen, Mülheim, Bochum und in ganz NRW herrscht Ausnahmezustand in den Kinderarztpraxen, Kinderkliniken und Kindernotdiensten.

Dr. Marcus Heidemann, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Westfalen-Lippe, appelliert an die Familien, die Dienste der Mediziner maßvoll in Anspruch zu nehmen: „Frustrierte, überlastete Ärzte und Medizinische Fachangestellte können keinem helfen, daher bitten wir um Ihre Rücksichtnahme.“

Landesregierung beobachtet die Lage mit Sorge

In den Kinderkliniken in Duisburg ist kein Bett mehr frei, und in der Nachbarschaft auch nicht. Die Bielefelder Kinder- und Jugendmediziner schlagen besonders laut Alarm, weil der Andrang in der dortigen Notfallpraxis zuletzt „jede bisherige Dimension“ sprengte. Stündlich wurden dort an einem Wochenende bis zu 18 Kinder versorgt. Staatssekretär Matthias Heidmeier bestätigte im Landtag, die Kliniken und Praxen seien „massiv gefordert“.

Dass die Kinderärzte so viel zu tun haben wie womöglich noch nie zuvor, liegt an einer Mischung außergewöhnlicher Umstände. Da sind zum Beispiel die „Nachholinfekte“, also Infekte, die Kinder in den Zeiten des Lockdowns nicht durchmachen konnten.

RS- und Influenza-Viren grassieren

Im Moment grassieren „RS-Viren“ (Respiratorisches Synzytial-Virus). In der Pandemie mit ihren Maskenpflichten, Abstandsregeln und Lockdowns gab es nur wenige Fälle. Folge: Viele Menschen sind nicht immun, RS- und Grippeviren verbreiten sich rasant.

Problem Nummer zwei: Viele Schulen verlangen ärztliche Atteste bei Fehlzeiten, eine einfache Entschuldigung reicht nicht. Rechtlich unhaltbar sei das, finden die Mediziner. Zudem bringen Eltern immer häufiger ihre Kinder wegen „Kleinigkeiten“ die Praxen.

Außerdem nimmt die Berufsunzufriedenheit zu, sagen die Mediziner. Ein Trend zum frühen Ruhestand und zu wenige junge Pädiater hätten mancherorts schon zu „fulminanten Defiziten in der medizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen“, geführt, schreibt der BVKJ in einer Stellungnahme für den Landtag.

In diesen Wochen kommt es für Kinder- und Jugendmediziner in NRW knüppeldick: Ungewöhnlich viele Patientinnen und Patienten, Infektionen, die Praxen und Kliniken personell ausdünnen und Pädagogen, die Ärztinnen und Ärzten „unnötige“ Atteste abverlangen.

Warum sind die Kliniken und Praxen so voll?

Dafür gibt es mehrere Gründe, aber der wichtigste ist wohl, dass viele Kinder im Moment Infekte „nachholen“, die sie während der Pandemie nicht hatten, weil es weniger Kontakte gab. Voriges Jahr fiel zum Beispiel eine „RS-Virus“-Welle weitgehend aus. Das sind Viren, die bei Säuglingen und Kleinkindern akute Atemwegserkrankungen auslösen können. In diesem Jahr kommt diese Welle sehr früh. Ältere Kinder kämpfen laut dem Robert-Koch-Institut oft mit Influenza-Viren.

Warum wollen Ärzte keine Atteste für Schüler ausstellen?

Salopp gesagt: Weil sie auch so schon genug zu tun haben. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) beruft sich auf das Schulgesetz in NRW. Dort steht, dass die Eltern die Schulen schriftlich informieren müssen, warum eine Schülerin oder ein Schüler fehlt. Nur bei „begründeten Zweifeln“ daran, dass das Kind aus gesundheitlichen Gründen fehlt, kann die Schule von den Eltern ein ärztliches Attest verlangen. Die Entschuldigung der Eltern sollte also fast immer reichen.

„Die meisten Ärztinnen und Ärzte empfinden es als Missbrauch ihrer medizinischen Tätigkeit, wenn überflüssige Praxistermine für Atteste von Schulen eingefordert werden und gleichzeitig erkrankte Kinder aufgrund des Arztmangels teilweise keine Versorgung mehr erhalten“, so der Verband.

Was machen Eltern falsch?

Nach Einschätzung der Mediziner liegen viele Eltern bei der Antwort auf die Frage, ob das erkrankte Kind ein „Notfall“ ist, falsch. Das stelle die Kinder-Notfallpraxen an den Wochenenden vor große Probleme. „Die Praxis ist nur für echte Notfälle da“, betont Dr. Marcus Heidemann, BVKJ-Vorsitzender in Westfalen-Lippe.

Eltern könnten oft durch einfache Maßnahmen einen unnötigen Arztbesuch vermeiden. „Fiebernde Kinder, denen es ansonsten recht gut geht und die sich zwischen Fieberschüben immer wieder einigermaßen erholen, benötigen in der Regel ebenso wenig akut einen Arzt, wie ein Kind mit Durchfall, dass gut trinkt“, so der Verband. Bei Säuglingen sei sicher mehr Vorsicht angebracht als bei älteren Kindern.

Eine erfahrenere Mutter, Tante oder Oma helfe bei der Einschätzung, ob ein Arzt oder ein Hausmittel notwendig ist, oft mehr als „Dr. Google“. Der verunsichere eher.

Wie beurteilt die Landesregierung die Lage?

Gesundheits-Staatssekretär Matthias Heidmeier sprach am Mittwoch im Landtag von einer „angespannten Situation“ in der ambulanten und stationären Versorgung sowie bei den niedergelassenen Ärzten. Einige Kinder seien in Kliniken außerhalb von NRW gebracht worden. Es gebe aber im Moment keine Hinweise darauf, dass in der Intensivmedizin die Lage außer Kontrolle gerate. Die Fallzahlen steigen ausgerechnet in einer Zeit, in der Kliniken und Praxen Personalausfälle verzeichneten und in der das Pflegepersonal wegen der Pandemie erschöpft sei.

Nach Einschätzung der Landesregierung sind diese Probleme nicht schnell lösbar. Die verschiedenen Initiativen zur Stärkung der Gesundheitsberufe in NRW wirkten sicher nicht schon in diesem Winter.

Ist die Versorgung in Gefahr?

Die überfüllten Praxen und Kliniken befeuern eine zunehmende Berufsunzufriedenheit vieler Kinder- und Jugendmediziner, die lange vor der Pandemie begann. „Es bestehen inzwischen fulminante Defizite in der medizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen“, schreibt der BVKJ in einer Stellungnahme an den Landtag. „Wir warnen seit 20 Jahren davor“, sagte Axel Gerschlauer, Sprecher der Kinder- und Jugendärzte im Rheinland, dieser Redaktion. Es gebe zu wenige Medizin-Studienplätze und immer weniger Nachwuchs-Mediziner, die sich auf die Behandlung von Kindern spezialisierten. Assistenzärzte sollten auch in Kinderarzt-Praxen arbeiten, so Gerschlauer. Schließlich sollten diese Mediziner und die Fachangestellten in den Praxen und Kliniken weniger arbeiten müssen. „Die Work-Life-Balance stimmt nicht“, versichert Gerschlauer. Auf Notfalldienste an Wochenenden folge kein Freizeitausgleich.

Auch die Honorierung dürfte eine Rolle spielen. Der Kinderarzt Dr. Marcus Heidemann erinnerte gegenüber dem „Westfälischen Anzeiger“ an die jüngste Anpassung der Gebührenordnung für Tierärzte, die die Landesregierung ausdrücklich begrüßt, weil sie die Attraktivität des Veterinärberufes stärke. Heidemann drückt seine Unzufriedenheit gegenüber der Politik mit beißendem Spott aus: „Wenn Sie mit ihrem Hund spazieren gehen, und sie beide werden vom Blitz erschlagen, ist es wirtschaftlich gesehen deutlich lukrativer, den Hund wiederzubeleben.“