Essen. Vor drei Jahren gingen die ersten Talentschulen an den Start. Sie sollen Chancengerechtigkeit schaffen. Doch es fehlt vor allem an einem Faktor.
Es ist eines der Vorzeigeprojekte der abgewählten schwarz-gelben Landesregierung: Landesweit hatte das frühere FDP-geführte Schulministerium unter dem Applaus vieler Bildungsfachleute 60 sogenannte Talentschulen ausgerufen. Die Schulen sollten mit mehr Geld und mehr Personal ihr Profil schärfen und so die Bildungschancen von Jugendlichen in sozial schwierigen Vierteln verbessern. Rund 150 Schulen im ganzen Land bewarben sich, eine Jury wählte 60 aus, die in zwei Schritten ab Sommer 2019 an den Start gegangen sind.
Drei Jahre später wird deutlich: Trotz Lob steckt der Teufel oft im Detail.
Unterbesetzt trotz des Stellenplus:
Zum Beispiel an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Essen: 1300 Jugendliche besuchen die Bildungsstätte im sozial schwachen Essener Norden, etwa 120 Fachkräfte gehören zum Kollegium. Im Landesprogramm sollen Talentschulen wie diese einen Stellenbonus von 20 Prozent bekommen – allerdings nicht von Anfang an, sondern bis zum Ende der sechsjährigen Versuchsphase, wie man heute in Düsseldorf betont. Erhalten hat die Essener Gesamtschule bislang nur drei Stellen, die Mindestanzahl im Starter-Paket des Landes.
Viel genutzt haben die neuen Stellen wenig: Da bereits im Stamm-Kollegium so massiv Personal fehlt, sind trotz des Schulversuch-Bonus nur 91 Prozent aller Stellen an der Gesamtschule derzeit besetzt. „In einigen Fächern haben wir zuletzt sogar Unterricht gekürzt“, sagt Julia Klewin, Lehrerin und Sprecherin der Essener Talentschule.
Neues Fach und Klassenräte: Vieles nur Dank freiwilligen Engagements möglich
Talentschulen sollen ihr musisches oder naturwissenschaftliches Profil schärfen, das ist einer der Grundpfeiler des Programms. Die Essener Gesamtschule hatte sich mit einem Ansatz beworben, die politische Bildung junger Menschen zu stärken.
Tatsächlich sind das neue Fach „Demokratie lernen“ und Klassenräte geschaffen worden. Die fünften Klassen startet nun mit sechs Wochen intensiverer Förderung - Klewin spricht von einer Chance, die der Schulversuch eröffnet habe. Personell sei diese aber vor allem durch freiwilliges Engagement erst umgesetzt worden: „Wir haben mehr aus dem Schulversuch gemacht, als uns das System hergibt.“
Bislang nur 154 von 400 zusätzlichen Kräften an den Talentschulen im Einsatz
Angaben des NRW-Schulministeriums zeigen, dass das Land in Sachen Stellenplan durchaus im Soll ist: Zur Halbzeit sind 212 und damit rund die Hälfte der angekündigten 400 Stellen für die 60 Talentschulen bereits geschaffen. Die Stellen sind unbefristet und sorgen ab Sommer 2025 für rund 22 Millionen Euro Mehrkosten.
Doch der Personalmangel drückt: Nur 154 Talentschul-Stellen sind aktuell auch besetzt. Weil auch sonst allerorten Lehrkräfte fehlen, gab es 2020 sogar Talentschulen, an denen ein Sechstel aller Positionen vakant gewesen sind – Langzeiterkrankungen nicht mit eingerechnet.
Pandemie bremste gerade kulturelle Projekte aus
Und nicht nur der Personalmangel erschwert den Schulversuch in NRW - auch die Pandemiejahre haben Talentschulen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Davon berichtet Marc Bethke, Konrektor der Realschule Crange in Herne.
Dort hat sich ein Team von 50 Lehrkräften, Schulsozialarbeitern und anderen Berufsgruppen vor zehn Jahren auf den Weg gemacht, die musische Bildung der rund 600 Schülerinnen und Schüler besonders zu fördern. Der Distanzunterricht hätte viele der geplanten musischen Projekte aber erschwert. „Eigentlich müsste der Schulversuch um die zwei Jahre verlängert werden, die wir wegen Corona verloren haben“, findet Bethke.
Mehr Fortbildungsbudget und Unterstützung bei der Schulentwicklung
Trotzdem hat Bethke viel Gutes zum Schulversuch zu sagen: Das um jährlich 2500 Euro aufgestockte Fortbildungsbudget für Talentschulen etwa werde voll ausgeschöpft. Auch den vom Land vorgesehenen engen Draht zur Schulentwicklungsberatung der Bezirksregierung nennen Schulleitungen als positiv.
Selbst die Lehrergewerkschaft GEW, sonst eine bekannte Kritikerin der früheren Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP), findet durchaus Gefallen an dem Schulversuch: Dass Schulen überhaupt die Chancen bekommen, ihr Profil mithilfe von mehr Stellen zu schärfen und individueller auf Jugendliche einzugehen, sei absolut richtig, sagt Michael Schulte, Geschäftsführer der GEW in NRW.
Ihn stört indes, dass dass Land den Talentschul-Versuch als Weg dargestellt habe, um Standorte in Brennpunkten besonders zu fördern. Das sei nicht der Fall. „Dazu müssten bei der Frage, wie eine Schule ausgestattet wird, ausschließlich soziale Kriterien gelten. Das ist bei den Talentschulen anders.“
Kleinere Klassen helfen, um junge Berufsschüler ausbildungsfit zu machen
Manch einer Schule ist es erst durch den Schulversuch gelungen, eigene Schulsozialarbeiter einzustellen - 14 Talentschulen haben dazu ihre neuen Stellen genutzt. Auch am Berufskolleg der Stadt Bottrop gibt es nun einen neuen Schulsozialarbeiter. „Jede Woche haben die Schüler zwei Stunden mit ihm, um ohne die Anwesenheit eines Lehrers zu sprechen“, sagt Guido Tewes, Leiter des Berufskollegs. „Das ist eine wichtige Hilfe, weil die Schüler bei uns oft Probleme haben, die außerhalb von Schule liegen.“
2100 junge Menschen besuchen das Berufskolleg, darunter auch unter 18-Jährige ohne Ausbildungsvertrag, die es nicht in die Oberstufe ihrer bisherigen Schule schaffen oder gar keinen Schulabschluss haben. Als Talentschule mit drei zusätzlichen Lehrkräften seien für diese Jugendlichen nun sieben neue Klassen gebildet worden. Innerhalb eines Jahres sollen rund 130 Schülerinnen und Schüler ausbildungsfit gemacht werden. „Wir haben so die Chance, Klassen mal zu teilen und in kleineren Gruppen besser auf Probleme und Schwierigkeiten eingehen zu können.“
Was geschieht am Ende des Schulversuchs mit den neuen Lehrkräften?
Tewes zieht deshalb eine positive Zwischenbilanz: Bislang konnte rund die Hälfte der Jugendlichen in andere Bildungsgänge des Berufskollegs und bis zu zwölf seien sogar in eine duale Ausbildung gebracht werden. „Für uns hat sich der Schulversuch gelohnt“, sagt Tewes.
Eine Sorge indes bleibe: Was geschieht am Ende der sechs Jahre mit den zusätzlichen Lehrkräften an den Talentschulen? Das NRW-Schulministerium hält sich das offen: Nach Ende des Schulversuchs sei es möglich, dass die Fachkräfte „abhängig vom Stellenbedarf“ an der jeweiligen Schule weiterbeschäftigt werden - „oder an einer anderen Schule eingesetzt werden“, heißt es aus dem Ministerium.
>>> WISSENSCHAFTLICHE BEGLEITUNG
Die Talentschulen im Land werden wissenschaftlich unter anderem durch Fachleute der Universität Duisburg-Essen begleitet. Mit Fragebögen, Interviews, Unterrichts-Besuchen und Deutschtests sollen Fortschritte der Schulen und der Schülerschaft dokumentiert werden. Ein erstes Zwischenfazit ziehen die Forschenden nicht. Die Talentschulen verfolgten ihre geplanten Maßnahmen kontinuierlich und schärften sie weiter aus, heißt es lediglich.
Am Ende wollen die Fachleute auch festhalten, welche konkreten Maßnahmen an den Schulen und im Unterricht besonders erfolgreich waren.