Essen. Mit mehr Lehrern und neuen Konzepten sollen 60 ausgewählte Schulen in sozialen Brennpunkten Schüler besser fördern. Kritik an „Leuchttürmen“.

Kritik und Gegenwind ist sie gewohnt. Doch in Essen schlug Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) ungebrochene Zustimmung entgegen. Mehr als 300 Schulleiter, Lehrer und Bildungsexperten begrüßten sie mit engagiertem Applaus bei der feierlichen Auftaktveranstaltung zum Schulversuch Talentschule in NRW.

Spürbare Aufbruchstimmung herrschte unter den Vertretern der 60 ausgewählten Schulen. 35 Talentschulen arbeiten bereits seit diesem Schuljahr mit neuen Förderkonzepten und mehr Lehrern. Ab dem kommenden Schuljahr kommen 25 weitere hinzu. „Danke, dass Sie mit uns die Bildungsgerechtigkeit in NRW verbessern wollen“, rief Gebauer ihnen zu. Die Befürworter des sechsjährigen Schulversuchs waren bei der Veranstaltung weitgehend unter sich und begrüßten daher einhellig das ehrgeizige Projekt, das ihre Talentschule in Zukunft besser stellen wird als andere.

Die Ministerin nutzte die Gelegenheit, um die Einführung eines „schulscharfen Sozialindex“ zum Schuljahr 2021/22 anzukündigen. „Ich bin zuversichtlich, dass er im Sommer zur Verfügung stehen wird.“ Mit dem Sozialindex, den es bislang nur für Kreise und Städte gibt, soll der Bedarf jeder einzelnen Schule ermittelt werden, um sie zielgenau zu fördern.

Der Schulversuch

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Schulen aller Schulformen, außer Grundschulen, konnten sich in einem Wettbewerb mit besonderen Förderkonzepten als Talentschule bewerben. In der ersten Rund wurden von einer Fachjury unter Leitung des Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart aus knapp 150 Bewerbungen 35 Schulen ausgewählt. In der zweiten Runde kürte eine Jury weitere 25 Schulen aus 98 Bewerbungen.

An den insgesamt 60 Schulen in sozialen Brennpunkten soll erprobt werden, ob die Leistungen von Schülern durch besondere Unterrichtskonzepte, mehr Personal und Hilfen bei der Schulentwicklung messbar gesteigert werden können. Anschließend sollen erfolgreiche Maßnahmen auf weitere Schulen übertragen werden. „Es geht nicht nur um die 60 Talentschulen“, betonte Gebauer, „sondern um die Erprobung von Maßnahmen, die allen Kindern in NRW zugute kommen sollen.“ Aus diesem Grund wird das Vorhaben von einem Expertenteam unter Leitung der Essener Bildungswissenschaftlerin Isabell van Ackeren betreut und ausgewertet.

Ziele des Schulversuchs

„Eine Chance für viele Jugendliche“

Drei Fragen an den Praktiker:

Wolfgang Großer leitet das Hans-Böckler-Berufskolleg in Marl/Haltern, das sich erfolgreich als Talentschule beworben hat.

1. Was bringt Ihnen der Titel Talentschule?

Wir haben viele Schüler, die in ihrer Bildungsbiografie gescheitert sind und für die das Berufskolleg oft die letzte Chance ist, sich auf den Weg zu machen. Da bietet der Schulversuch Möglichkeiten, sie zu fördern.

2. Welche Pläne haben Sie?

Wir werden die Sprachförderung ausbauen und die Berufserkundung stärken. Wir wollen die Schüler auch stärker individuell beraten, mit ihnen Lern- und Entwicklungspläne erarbeiten und sie mit Beratern dort abholen, wo sie stehen.

3. Bekommen Sie zusätzliche Kräfte?

Wir bekommen sieben zusätzliche Stellen, sechs sind bereits besetzt. Dadurch können wir auch in der Unterrichtsgestaltung neue Wege gehen. Denn viele Jugendliche sind schulmüde. Es ist gut, dass der Schulversuch den Schulen mehr Freiheiten gibt, eigene Ideen zu entwickeln und zu erproben. Davon werden anschließend auch andere Berufskollegs im Kreis profitieren.

Seit Jahren wird dem deutschen Schulsystem bescheinigt, das es benachteiligte Kinder unzureichend fördert. Nach Angaben des NRW-Zentrums für Talentförderung leben vor allem im Ruhrgebiet viele Kinder in Familien, die Sozialhilfe beziehen. In Gelsenkirchen seien es knapp 40 Prozent der unter 18-Jährigen, in Essen und Dortmund jeweils gut 30 Prozent. Marcus Kottmann, Leiter des Zentrums, sagte: „Daher ist es sinnvoll, dass viele der ausgewählten Talentschulen in Vierteln liegen, wo es sehr viele benachteiligte Jugendliche gibt.“

Darauf zielt auch die politische Absicht des Schulversuchs ab. Ziel der Landesregierung ist es, soziale Nachteile im Bildungsbereich zu überwinden. „Wir wollen Kindern gerechtere Bildungschancen eröffnen, unabhängig von ihrem Elternhaus und dem Stadteil, in dem sie leben“, betonte Gebauer.

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Neue Konzepte

Die Talentschulen sollen zur besseren Förderung ihrer Schüler besondere pädagogische Konzepte umsetzen. Im Mittelpunkt steht dabei der Aufbau einer zusätzliche „Fördersäule“. An den allgemeinbildenden Schulen soll die sprachliche Förderung im Fachunterricht vertieft werden. An den Berufskollegs wird die Berufsfelderkundung verstärkt.

Die Förderung

Das Land stellt für die 60 Talentschulen mehr als 400 zusätzliche Lehrerstellen bereit, 100 an berufsbildenden Schulen, 315 an allgemeinbildenden. Für diese bedeutet das einen Zuschlag von 20 Prozent auf den Grundstellenbedarf. Zusätzlich erhalten die Schulen 2500 Euro für Fortbildungen. Damit sollen sie Beratungsangebote sowie Förderschwerpunkte etwa im mathematisch-naturwissenschaftlichen oder kulturellen Bereich ausbauen.

Die Kritik

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Maike Finnern, GEW-Vorsitzende in NRW, sagte dieser Redaktion: „Wir wünschen den ausgewählten Schulen viel Erfolg. Aber wir glauben, alle Schulen in NRW müssen Talentschulen werden.“ Ein paar „Leuchttürme“ würden die Chancenungleichheit nicht beseitigen. Finnern: „Wir wissen, dass 800 bis 1000 Schulen unter besonders schweren Bedingungen arbeiten. Sie alle brauchen mehr Ressourcen und Unterstützung.“