Essen/Schwelm. In der Pandemie sind Pflegekräfte massiv belastet. Kliniken und Heime setzen immer öfter auf Zeitarbeitskräfte. Das sorgt auch für Probleme.

Wenn Matthias Menne neue Pflegekräfte für seine Zeitarbeitsfirma sucht, muss sich der Geschäftsführer des Gesundheits-Personaldienstleisters „Rehcura“ nicht lange umschauen. Selbst im Bekanntenkreis wird der 45-Jährige von langjährig festangestellten Pflegefachkräften angesprochen, ob sich ein Wechsel in die Leiharbeit lohnen könne.

„Das Bewerberverhalten hat sich sehr stark verändert. Früher habe ich Ordner aufgeschlagen und Leute für Einsätze abtelefoniert. Heute bewerben sich bei uns immer mehr Pflegekräfte gezielt aus einer Festanstellung heraus“, sagt Menne, einer von drei Geschäftsführern der Rehcura mit Sitz in Schwelm. In den Gesprächen höre er dann oft das Gleiche: „Die Leute wollen in der Pflege verlässliche Arbeitszeiten und freie Tage, weniger Überstunden und weniger Druck. Sie wollen Pflege machen, aber zu anderen Bedingungen als ihre Arbeitgeber ihnen bieten können“, sagt der Pflegewirt. In der Zeitarbeit sähen sie eine Chance.

Anteil der Leiharbeiter in der Pflege steigt in NRW – besonders bei der Altenpflege

Und das tun immer mehr: Nach Angaben der Agentur für Arbeit in NRW hat die Zeitarbeit in der Pflege innerhalb von nur zwei Jahren deutlich zugenommen. Demnach ist die Zahl der Leiharbeiter in der Altenpflege um 31 Prozent gestiegen – von 2791 Personen im März 2019 auf 3660 zwei Jahre später. In der Krankenpflege gab es ein Plus von 19 Prozent. Und das, obwohl die Zahl der Leiharbeiter branchenübergreifend in der Pandemie zurückgegangen ist.

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Selbst wenn man statistische Ungenauigkeiten und die Tatsache berücksichtigt, dass die Zahl der Pflegekräfte insgesamt auch gestiegen ist, ist der Trend deutlich: Der Anteil der Leiharbeit in der Pflege wächst.

Das ist insofern interessant, als dass Zeitarbeit als Mittel der Arbeitsmarktintegration von Arbeitslosen oder geringer Qualifizierten gedacht ist. In der Pflege herrscht aber praktisch keine Arbeitslosigkeit. Im Gesundheitswesen ist Zeitarbeit nach Auskunft von Kliniken, Zeitarbeitsfirmen und Branchenkennern vielmehr ein Mittel geworden, um die eklatant gewordenen Personalnöte über längere Zeiträume aufzufangen – nicht selten mit Fachkräften, die sie zuvor selbst ausgebildet haben.

Mehr Geld und Freiheiten: Firmen locken mit Versprechen

Grund ist nicht nur die Pandemie: In einschlägigen Jobportalen werden Pflegekräfte umworben – von Dienstwagen ist die Rede und von einer hohen Lohnzuwächsen. Es gebe Unternehmen, heißt es in der Branche, deren Zeitarbeitskräfte 30 Prozent mehr Geld verdienen als das Stammpersonal ihrer Kunden. Geworben werde auch damit, dass man Dienstpläne selbst gestalten darf – sich also Schichten aussuchen kann – oder nicht auf einer Covid-Station arbeiten müsse.

Matthias Menne kennt solche Angebote auch. Er bittet um eine differenzierte Darstellung. „Von Zeitarbeitskräften wird eine hohe Flexibilität verlangt, dafür erhalten sie etwas höhere Gehälter. 30 Prozent mehr ist aber zu weit vom Lohnniveau entfernt und damit nicht nachhaltig.“ Rehcura zahlt nach dem IGZ-Tarifvertrag, einem von zwei großen Branchenverträgen. Pflegekräfte erhalten nach Auskunft des IGZ-Interessensverbandes Zulagen.

Pflegewirt: Zeitarbeit ist flexibel und hält damit Pflegekräfte im Beruf

Dass Fachkräfte sich ihre Dienste aussuchen, sei mitnichten gängige Praxis. Vielmehr setze die Zeitarbeit da an, wo das Gesundheitswesen zu unflexibel ist. Menne erzählt von einer Mutter, die als Alleinerziehende nur Frühdienste machen konnte. Bei einer Bewerbung in einem Altenpflegeheim wurde sie abgewiesen, über Menne aber an genau diese Einrichtung dann überlassen worden. „Wir bieten nicht jedem alles an, aber wir sehen, wo die Arbeitsbedingungen von Pflege besser werden müssen.“ Auch Rehcura ist in den vergangenen drei Jahren massiv gewachsen: Rund 700 Menschen sind von sieben Standorten aus im Einsatz. Zeitarbeit, sagt der Pflegewirt Menne, ist ein notwendiger Teil der Pflegebranche geworden.

Aus anderen Firmen heißt es, dass eher der „Schutz der Freizeit“ für Zeitarbeitskräfte zähle. Fällt am freien Wochenende jemand aus, ruft die Klinik nicht direkt bei der Leihkraft an – sondern beim Personaldienstleister. Und das geschehe gerade in der Pandemie immer häufiger: Oft riefen auch Pflegeeinrichtungen an, die innerhalb eines Tages eine Zeitarbeitskraft bräuchten.

In den Kliniken im Land ist die Zeitarbeit Segen und Ärgernis zugleich. Zwar lassen sich so Personalengpässe auffangen – Zeitarbeit ist aber teuer. Die Krankenkassen refinanzieren die im Vergleich zu festangestellten Kräften anfallenden Mehrkosten nicht. Zugleich sorgen die ungleichen Löhne und Einsatzzeiten in den Teams immer wieder für Unfrieden beim Stammpersonal. Leiharbeitskräfte müssen eingearbeitet werden, in den Häusern gibt es dafür vielfach Konzepte. Zugleich berichten große Kliniken, dass viele neue Zeitarbeitsfirmen auf dem Markt aufgetaucht seien, oft aber nicht zuverlässig seien.

Uniklinikum Essen: Kosten durch Zeitarbeit sind exorbitant

Das Universitätsklinikum Essen etwa gibt offen zu: Ohne Zeitarbeitskräfte wäre es aktuell nicht möglich, „die Intensivmedizin auf dem Niveau zu betreiben, wie wir es zur Versorgung der Patientinnen und Patienten und als größtes Corona-Zentrum in NRW benötigen“. Das Uniklinikum gehört zu den Häusern mit einem vergleichsweise hohen Personalschlüssel und nicht zuletzt wegen der Vielfalt der Behandlungsfelder zu den interessanten Arbeitgebern am Markt. Das Klinikum hat etwa 2600 festangestellte Beschäftigte im Pflegedienst, allein 2021 wurde der Pflege- und Funktionsdienst um knapp 45 Vollzeitkräfte aufgebaut.

Doch um etwa die Aufnahme von Intensivpatienten sicherzustellen, muss die Uniklinik Zeitarbeitskräfte einsetzen. 50 seien insgesamt aktuell im Einsatz. Es kommen auch jene, die das Klinikum vorher selbst ausgebildet hat.

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Die Herausforderungen seien mannigfaltig. Es gebe Bereiche, in denen sechs unterschiedliche Gehälter gezahlt würden. Das große Problem aber seien die exorbitanten Kosten. Das Uniklinikum verweist auf eine Einigung mit Verdi von 2018, nach der das Krankenhaus das Pflegepersonal massiv aufbauen sollte. Das hat das Haus auch getan. Seitdem fallen jährlich Mehrkosten im zweistelligen Millionenbereich an, die nicht refinanziert werden.

Prof. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen, sieht den Gesetzgeber in der Pflicht: Eine Gegenfinanzierung müsse gesichert werden, zudem brauche es mit Blick auf Dienste und Entlohnung eine faire Gleichbehandlung. „Der Gesetzgeber muss hier bessere Rahmenbedingungen setzen, sonst ufert die Zeitarbeit weiter aus“, so Werner.

Selbst in der Zeitarbeit wollen Unternehmen ein Regelwerk für die Branche

Rehcura-Chef Menne ist gar nicht so weit von den Forderungen des Klinikchefs entfernt. Auch er sieht die Notwendigkeit, die Zeitarbeit in der Pflege zu regulieren und will erreichen, dass die Branche darüber mit den anderen Beteiligten des Gesundheitswesens ins Gespräch kommen kann. Eine Forderung: Es brauche „Leute vom Fach“ in den Zeitarbeitsfirmen, die Pflege am Bett kennen und damit auch die Qualität der eingesetzten Pflegekräfte sichern. Menne wirbt für klare Vorgaben zu Lohnniveaus und insgesamt bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, um Menschen in dem Job zu halten. Denn auch in den Zeitarbeitsfirmen ist der Fachkräftemangel angekommen: „Ich habe ja kein Kühlfach, aus dem ich mir die Leute auftauen kann.“