Essen. Im Tarifstreit im öffentlichen Dienst sind auch Beschäftigte der Unikliniken am Donnerstag aufgerufen, zu streiken. Fünf erklären, warum.
Flo ist 28 Jahre alt und arbeitet seit mehr als vier Jahren auf der chirurgischen Intensivstation an der Uniklinik Münster. Wenn man ihn fragt, warum er als Pflegekraft mitten in der vierten Corona-Welle dem Streikaufruf der Gewerkschaft Verdi folgt und seine Arbeit niederlegt, spricht er über Würde.
Er erzählt beispielhaft von einer Situation, in der er einen Patienten in seinen Ausscheidungen im Bett vorgefunden habe. Daneben habe ein zweiter schnelle medizinische Hilfe benötigt. „Beides kannst du nicht sofort machen, du kannst aber auch niemanden um Hilfe bitten, weil die Kollegen ihre eigenen Patienten haben. Also lässt man den einen Mann in seinen Exkrementen liegen und versorgt den anderen.“ Null Würde habe der Patient da, sagt Flo, der dieses „Dauer-Priorisieren“ kritisiert, das sich aus dem Personalmangel vor Ort ergebe. „Deshalb gehe ich auf die Straße.“
Verhandlungen stecken fest
Seit Wochen stecken die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienstes fest. Die Gewerkschaften fordern für die Beschäftigten der Länder 5 Prozent bzw. mindestens 150 Euro mehr Lohn, in den Gesundheitsberufen soll es 300 Euro mehr Geld im Monat geben. Weil die Arbeitgeberseite diese Forderung in den ersten Verhandlungsrunden abgelehnt und kein Gegenangebot gemacht hat, erhöhen die Gewerkschaften bundesweit den Druck – auch an den Uni-Kliniken.
In dieser Woche wird allein in NRW an verschiedenen Stellen im Land gestreikt, Hochschulen, Landesverwaltung, Schulen, auch Gefängnisse und eben die Universitätskliniken sind betroffen. Täglich zwischen 250 und 2000 Beschäftigte haben sich am Warnstreik beteiligt. Pflegekräfte machten als größte Berufsgruppe aktuell den größten Teil der Streikenden aus, so Verdi NRW. Am heutigen Donnerstag werden mehrere Tausend Beschäftigte zu einer Großkundgebung unter Einhaltung der AHA-Regeln vor dem Düsseldorfer Landtag erwartet.
„Die Leute auf den Corona-Stationen stehen weiter an den Betten“
Dass nun ausgerechnet Pflegekräfte der Unikliniken in einer Zeit rasant steigender Corona-Fallzahlen ihre Arbeit tageweise niederlegen, provoziert Kritik. Das weiß auch Jakob Lehnert, der als OP-Pfleger in Bonn arbeitet. Die Problematik sieht er durchaus, sagt aber: „Die Leute, die Corona-Patienten versorgen, stehen weiterhin an den Betten. Wir gehen für sie mit auf die Straße.“ Er kritisiert die Arbeitgeberseite, die aus seiner Sicht gerade in der Pandemie, die die Pflegekräfte massiv fordert, verhandlungsbereiter sein müsste. „Dass das nicht so ist, ist beleidigend und lässt einen verzweifeln.“
Lehnert und seinen Kollegen und Kolleginnen, die sich auf Anfrage der Redaktion zu einem Videogespräch bereiterklären, geht es um grundsätzliche Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen und mehr Wertschätzung ihrer Arbeit. Die Pflege habe schon vor der Pandemie „aus dem letzten Loch gepfiffen“, sagt etwa Gerd Küpper, der an der Uniklinik Essen zum Krankentransport-Team gehört. Arbeiten, die früher zu dem Berufsfeld gehörten, müssten längst anderweitig aufgefangen werden.
Lohnerhöhung als ein Schritt zu mehr Wertschätzung
Carolin Wengler, die seit fünf Jahren auf der neurologischen Station am Universitätsklinikum Münster arbeitet, spricht von „Fließbandarbeit“, in der man Aufgaben der Patientenversorgung immer wieder liegenlassen müsse, weil nicht alles zu schaffen sei. Sie erzählt von schlechtem Gewissen, mit dem man nach Hause gehe - und das belaste. „Die Gesellschaft vertraut auf uns. Damit es uns gut geht und wir so pflegen können, wie wir es wollen und sollten, müssen wir anfangen uns zu positionieren.“ Geld sei ein Ausdruck der Wertschätzung, ergänzt Jakob Lehnert, vielleicht der einfachste. „Aber für uns ist das nur der erste Schritt.“
Auf die Situation der Auszubildenden macht Ilayda Maru aufmerksam. Die 21 Jahre alte Bonnerin kritisiert, dass die Ausbildung unter dem Fachkräftemangel und in der Pandemie leide. Es fehle an Anleitung und Erklärung. Sie schätzt, dass die Mehrheit der Pflege-Azubis aus ihrem Jahrgang der Pflege auf den Stationen nicht erhalten bleiben werden. „Bestimmt 80 Prozent wollen weg, Pflege studieren oder etwas anderes machen“, sagt sie und ergänzt: „Unter den jetzigen Bedingungen werde ich das auch nicht bis zum Ende weitermachen.“
Streik hat an den Unikliniken massive Auswirkungen
An den Unikliniken im Land haben die Streiks massive Auswirkungen. Die Uni-Klinik Düsseldorf spricht von einer grundsätzlich sehr angespannten Situation. Etwa die Hälfte der bis zu 30 OP-Säle seien an den drei dortigen Streiktagen in Betrieb, lediglich Notfälle würden versorgt. Die Basis-Notfallversorgung sei aber gewährleistet.
- Der Pro-Kommentar von Stephanie Weltmann: Krisenzeiten klammern das Streikrecht nicht aus
- Der Contra-Kommentar von Frank Meßing: Der Warnstreik in der Pflege ist unangebracht
Ähnlich am Uniklinikum Essen, das mit neun Streiktagen zwischen Mitte Oktober und Ende November besonders leidgeprüft ist: Die Regelversorgung gerate extrem durcheinander und werde reduziert. Sehr viele Operationssäle mussten schließen – in der Neurochirurgie, der Herzchirurgie und allen anderen operativen Disziplinen, wie ein Sprecher sagte. Er verweist auf die Lage mancher Patienten am Beispiel eines Menschen, der an einem bösartigen Hirntumor operiert werden muss. Was eine Verschiebung seiner Operation bedeute, vermöge man kaum nachzuempfinden. Zumal Möglichkeiten OPs zu verschieben, rar sind. Es spielten sich „unfassbare persönliche Dramen“ ab, sagte der Sprecher, zumal es bereits teils lange Wartelisten gebe.
Bislang gebe es zwar Verständnis dafür, dass sich Pflegerinnen und Pfleger für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen engagieren. Zugleich sei das Unverständnis aber groß, dass „die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger als Druckmittel missbraucht wird“ und der Streik „auf dem Rücken von bereits enorm belastetem Krankenhauspersonal“ inmitten der vierten Welle der Corona-Pandemie ausgetragen werde.
Verdi verweist auf Notdienstvereinbarungen, die mit Unikliniken verhandelt werden
Verdi NRW verweist darauf, dass mit den Arbeitgebern Notdienstvereinbarungen geschlossen würden. So solle ermöglicht werden, dass Beschäftigte ihr Streikrecht ausüben, ohne dass Patienten und Patientinnen gefährdet würden. Darin werden konkrete die Anzahl der OP-Säle und Mindestpersonalgrößen verhandelt, um Grund- und Notfallversorgung sicherzustellen.
Carolin Wengler sagt, man wolle für die Patientenversorgung streiken, aber die Betroffenen nicht gefährden. „Bei uns im Team sprechen wir sehr genau ab, sehr streiken kann, damit die Versorgung gewährleistet wird.“ Sie selbst werde deshalb heute nicht vor dem Landtag stehen. „Ich springe ein, falls ein Kollege für den Notdienst fehlt.“