Essen. Unter dem Eindruck mehrerer Missbrauchsfälle soll NRW ein Kinderschutzgesetz bekommen. Kinderschützer und Opposition hoffen auf Ergänzungen.

Die Erwartungen sind bei Kinderschutzorganisationen wie der Kölner Beratungs- und Informationsstelle „Zartbitter“ groß: „Ich glaube, dass Missbräuche durch dieses neue Gesetz in Zukunft besser verhindert werden können“, sagt Leiterin Ursula Enders über das erste NRW-Kinderschutzgesetz, das unlängst NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) vorgestellt hat. Fachleute wie Enders setzen ihre Hoffnung vor allem in Maßnahmen, die die Jugendämter betreffen.

Mit dem Gesetzentwurf reagiert das Landeskabinett auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern, die in den Jahren 2019 und 2020 in NRW bekannt geworden sind. Er greift die Ergebnisse einer mehrjährigen fraktionsübergreifenden Aufarbeitung der grausamen Taten von Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster auf, zu der unter anderem eine Kinderschutzkommission und ein Untersuchungsausschuss gegründet worden sind.

Mindeststandards und Netzwerkarbeit soll Schutz verbessern

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Zu den Kernpunkten des neuen Gesetzes zählt aus Sicht des Landes, dass Fachkräfte des Jugendamtes fachliche Mindeststandards zu beachten haben, wann immer es um Fragen der Kindeswohlgefährdung geht. Die Standards fußen auf Empfehlungen der Landesjugendämter, die etwa einfordern, dass jede Mitteilung, die auf eine Kindeswohlgefährdung hinweist, auch aufgenommen wird und an der Erstberatung mehr als zwei Fachkräfte teilnehmen sollen.

Für das Fachpersonal in den Ämtern soll es mit dem Gesetz zudem eine Qualifizierungsoffensive geben und Jugendämter erhalten Gelder, um verpflichtend Netzwerke untereinander und innerhalb ihrer Städte mit Schule, Kita oder Polizei enger als bislang zu knüpfen. Alle fünf Jahren sollen die getroffenen Maßnahmen evaluiert und die Qualität der Jugendämter ausgewertet werden.

NRW sagt rund 185 Millionen Euro für mehr Kinderschutz zu

Familienminister Stamp sagte bei der Vorstellung des Gesetzes, die grausamen Fälle sexualisierter Gewalt in Lügde, Münster oder Bergisch-Gladbach hätten der Gesellschaft schmerzhaft vor Augen geführt, „dass wir unsere Anstrengungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Vernachlässigung und Gewalt erheblich verstärken müssen“. Stimmt der Landtag dem Gesetz zu, soll es im Mai in Kraft treten. NRW unterfüttert es mit 184,7 Millionen Euro für die kommenden drei Jahre.

Die Erziehungswissenschaftlerin und Diplom-Pädagogin Ursula Enders leitet
Die Erziehungswissenschaftlerin und Diplom-Pädagogin Ursula Enders leitet "Zartbitter Köln e.V.", eine Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. © FUNKE Foto Services | Felix Heyder

Ursula Enders von Zartbitter befürwortet das Gesamtpaket. „Davon haben wir jahrelang geträumt.“ Sie habe erlebt, dass in den Behörden häufig das notwendige Fachwissen fehle. Im Fall Münster, bei dem Kinder systematisch sexuell missbraucht worden sind, habe es zwar einen Austausch zwischen Familiengerichten und Jugendamt gegeben - die Fachlichkeit aber habe gefehlt.

Landesjugendamt: Weitere Qualifizierung von Mitarbeitenden bringe Sicherheit

Lorenz Bahr, Jugenddezernent beim Landschaftsverband Rheinland, unterstreicht die Bedeutung der Qualifizierungsoffensive. „Nicht jeder Mitarbeiter und nicht jede Mitarbeiterin kann in jedem Thema gleich gut qualifiziert sein. Alle Beschäftigten in den sozialen Diensten werden jetzt weiter qualifiziert, sie bekommen entsprechende Fachkräfte in den Beratungsstellen zur Seite gestellt und sie bekommen den Rücken gedeckt, indem sie ihren lokalen Jugendhilfeausschuss einbinden“, sagt Bahr.

Wenn die Mitarbeitenden im Allgemeinen Sozialen Dienst weiter qualifiziert werden, gebe das Sicherheit. Bahr erinnerte daran, dass die Jugendämter unter erschwerten Bedingungen arbeiteten, was das Gesetz anerkenne.

Kinderschutzbund: Gesetz muss auch auf Schulen blicken

Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, lobt das Vorhaben zwar als wichtigen ersten Schritt. Er kritisiert es aber als „vertane Chance“, dass Schulen außen vor gelassen werden. Schutzkonzepte für Schulen, die bereits zahlreich ausgearbeitet worden seien, hätten verpflichtend eingeführt werden müssen. „Die Schule bietet für den Kinderschutz eine große Chance. Aber sie ist eben nicht nur ein Ort für Prävention, sondern auch ein Tatort.“

Ursula Enders vom Verein Zartbitter ergänzt, dass auch private Anbieter von Kinder- und Jugendangeboten nicht außer Acht gelassen werden dürften.

Grüne und SPD melden Nachbesserungen für Polizei und Justiz an

Im Landtag gibt es keine größere Kritik an dem Gesetz. Es herrscht ein fraktionsübergreifender Konsens, beim Thema Kinderschutz an einem Strang zu ziehen und den zielgerichtet zusammenarbeiten, heißt es etwa von den Grünen. Zum Gesetz sei man in einem guten Gespräch.

Josefine Paul, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, lobt insbesondere die geplante Unterstützung der Netzwerkarbeit von Jugendämter. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle habe gezeigt, dass Kinderschutz nur funktionieren kann, wenn die Jugendämter untereinander und in ihren Städten gut vernetzt sind. „Es ist wichtig, dass das Land die Kommunen bei der Einrichtung und Stärkung von Netzwerken auch finanziell unterstützt, damit gleiche Standards in allen 186 Jugendämtern in NRW bei der Netzwerkarbeit greifen.“

Grünen-Fraktionschefin: Kultur des Hinsehens

Es gehe darum, eine „Kultur des Hinsehens“ zu implementieren, so Paul. „Wir müssen alles versuchen, um das Auffangnetz zum Schutz der Kinder und Jugendlichen enger zu weben. Wir werden nicht jedes einzelne Kind überall und zu jeder Zeit hundertprozentig schützen können. Aber es ist unsere Verantwortung, alles zu tun, es zu versuchen.“

Nachbesserungsbedarf sieht die Fraktionschefin der Grünen im NRW-Landtag gleichwohl: Auch für Polizei und Justiz brauche es Fortbildungen, damit Kinder „altersgerecht“ gehört – etwa nicht mehrfach aussagen müssen.

Dennis Maelzer, Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in der Kinderschutzkommission, ergänzt, dass Kinderschutz als Pflichtmodul in der Ausbildung bei pädagogischen Berufen und in der polizeilichen Ausbildung eingeführt werden müsse. Generell müsse der Fokus mehr auf die Prävention gerichtet werden.