Essen. Ein neues Kinderschutzhaus in Essen hilft Kindern, deren Eltern gewalttätig oder mit ihren Aufgaben als Mutter und Vater überfordert sind.

Der zweijährige Junge auf dem Arm von Melisa Alagöz nuckelt am Schnuller und lehnt seine Stirn an die der Erzieherin. Ausruhen, Luft holen. Das Leben dieses kleinen Menschen hat sich vor wenigen Tagen gewendet. Das Jugendamt hat entschieden, er und seine drei Geschwister können nicht mehr zu Hause bleiben. Und so standen die vier vor der Tür des Kinderschutzhauses. Die Jacken waren nicht warm genug für den Herbst, sagt die Leiterin Christine Dreier: „Ein Kind hatte nicht mal Schuhe an.“

Die Geschwister sind die ersten kleinen Bewohner des Anfang Oktober eröffneten Kinderschutzhauses Sonnenland in Essen-Katernberg. „Plan B Ruhr“, eine interkulturelle Kinder- und Jugendhilfe, hat die Anlaufstelle gegründet. Der Verein ist in mehreren Städten im Ruhrgebiet tätig, neben Essen auch in Bochum, Mülheim, Herne, Dortmund und Hattingen. Er vermittelt Kinder, die bei ihren Eltern nicht mehr leben können, zum Beispiel an Pflegefamilien oder in Wohngruppen.

Im Haus gibt es rund um die Uhr Betreuer

Als die Kinder ins Kinderschutzhaus kamen, wurden sie aus Kleiderspenden den kühlen Tagen entsprechend neu eingekleidet.
Als die Kinder ins Kinderschutzhaus kamen, wurden sie aus Kleiderspenden den kühlen Tagen entsprechend neu eingekleidet. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Doch manchmal muss es ganz schnell gehen. Und dann kann das Landesjugendamt schlecht um 3 Uhr nachts bei einer Bereitschaftsfamilie anrufen, ob sie ein Kind oder gleich vier aufnehmen könne, so Gorden Stelmaszyk (51), Fachbereichsleiter „Stationäre Hilfen für Kinder“ bei Plan B. Im Kinderschutzhaus seien rund um die Uhr Betreuer zur Stelle.

Mädchen und Jungen im Alter von vier bis sechs Jahren werden aufgenommen. Aber ganz streng wird diese Alters-Regel nicht gesehen: Die vier Geschwister sind zwei bis sieben Jahre alt. Um die Identität nicht preiszugeben, dürfen die Pädagogen nicht allzu viel von der Geschichte der Geschwister erzählen. Nur so viel: „Die Wohnung war nicht kindgerecht“, sagt Christine Dreier. Die Eltern fühlten sich überfordert, so die 45-Jährige. Ein Junge habe im Kinderschutzhaus das erste Essen in sich hineingestopft, aus Sorge: Wann bekomme ich das nächste?

Das Schamgefühl ist zu groß

Verwahrlosung oder Vermüllung der Wohnung können Gründe sein, warum das Jugendamt Kinder aus ihrem Zuhause nimmt. „Auch häusliche Gewalt, gesundheitsschädliches Vorgehen, mangelnde medizinische Versorgung, psychische Erkrankung der Eltern, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit“, zählt Plan-B-Geschäftsführerin Gülseren Çelebi (57) auf. Manchmal wüssten Eltern auch, dass es eigentlich nicht mehr so weitergeht, erklärt Gorden Stelmaszyk. Wenn sich etwa die Eltern trennen, der Vater auszieht, die Mutter die Kinder allein versorgen muss, das Einkommen zu niedrig ist, der Stress immer größer wird und die Wohnung immer chaotischer. Das Schamgefühl hindere manche Menschen, Hilfe zu suchen. Und dann käme vielleicht noch ein Wasserschaden im Badezimmer hinzu. „Und die Kinder können sich nicht waschen.“

„Hier können wir die Kinder kennenlernen und gucken, was am besten für sie ist“, erklärt Gülseren Çelebi, Geschäftsführerin von Plan B Ruhr.
„Hier können wir die Kinder kennenlernen und gucken, was am besten für sie ist“, erklärt Gülseren Çelebi, Geschäftsführerin von Plan B Ruhr. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Wer das Kinderschutzhaus betritt, spürt, dass hier mal Menschen gelebt haben. Die Eckbank ist geblieben, auch der Kamin im Wohnzimmer mit den großen Fenstern zum Garten mit Schaukel. Sechs Kinderzimmer hat Plan B eingerichtet – die Geschwister schlafen aber am liebsten in einem Raum. In jedem steht ein Bett, das sich mit Vorhängen schnell in eine schützende Bude verwandeln lässt. Stoffhunde blicken freundlich aus Körben oder einem Regal. An der Decke „fliegen“ die Vögel eines Mobiles. „Ein Junge hatte anfangs extreme Wutanfälle. Wenn er gekonnt hätte, hätte er das Zimmer auseinandergenommen“, erzählt Christine Dreier. Ein Zeichen für seine Hilflosigkeit, so die Heilpädagogin. Alle Geschwister seien am Anfang ängstlich gewesen: „Wie lange werden wir hier sein?“

„So kurz wie möglich“, sagt nun Gülseren Çelebi. „Aber das ist nicht immer machbar, wenn Gerichtsverfahren laufen. In der Regel nicht länger als drei Monate.“ Wäre es nicht besser für die Kinder, direkt zum Beispiel in eine Pflegefamilie zu kommen, damit sie sich nicht noch mal an neue Bezugspersonen gewöhnen müssen? „Hier können wir die Kinder kennenlernen und gucken, was am besten für sie ist“, erklärt Gülseren Çelebi. Wenn die Eltern zum Beispiel mit externer Hilfe die Kinder wieder richtig betreuen, könnten Jungen und Mädchen auch wieder zurück in ihr altes Zuhause.

Im Kinderschutzhaus gibt es einen Wochenplan, bei dem Fotos den Kindern zeigen, wer von den zehn Erziehern, Sozial- oder Kindheitspädagogen und welche der zwei Hauswirtschaftskräfte wann da ist. „Vorhersehbarkeit nimmt Angst“, sagt Christine Dreier. Der gleiche Erzieher, der ein Kind abends ins Bett bringt, frühstückt auch morgens mit ihm. Und: Schlafrituale geben Halt. Zum Vorlesen sind die Kinder zu aufgewühlt. Sie könnten sich noch nicht konzentrieren, so Christine Dreier. Aber bei Schlafliedern würden sie ruhiger.

Nicht anonym wie ein Frauenhaus

„Es gibt viele Signale“, sagt Gorden Stelmaszyk von Plan B Ruhr. Man könne am Verhalten der Kinder sehen, wie sie zu ihren Eltern stehen. „Manche versteifen, dann ist ihnen die Angst im Gesicht anzusehen.“
„Es gibt viele Signale“, sagt Gorden Stelmaszyk von Plan B Ruhr. Man könne am Verhalten der Kinder sehen, wie sie zu ihren Eltern stehen. „Manche versteifen, dann ist ihnen die Angst im Gesicht anzusehen.“ © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Das Kinderschutzhaus ist nicht wie ein Frauenhaus stets anonym, nur wenn zum Beispiel ein Elternteil ein Kind entführen will oder es sexuellen Missbrauch gab. In dem Fall der Geschwister war bereits der Vater zu Besuch. „Eltern bleiben Eltern“, betont Gülseren Çelebi. „Man kann sie nicht komplett ausblenden.“ Im Kinderschutzhaus hätte das Team die Chance, sich ein Bild von der Beziehung der Eltern zu den Kindern zu machen, das später dem Jugendamt bei seiner Entscheidung helfen kann: Lässt ein Kind die Nähe zu? Können die Eltern es trösten? Wie verhält sich das Mädchen oder der Junge nach dem Treffen? „Es gibt viele Signale“, erklärt Gorden Stelmaszyk. „Manche versteifen, dann ist ihnen die Angst im Gesicht anzusehen.“ Anders bei den Kindern, die derzeit im Haus sind. Als der Vater wieder abfuhr, weinten die Jüngsten.

Das größte Kind fühlt sich verantwortlich für die jüngeren Geschwister. Es käme durchaus vor, dass in Familien, in denen die Eltern überfordert sind, die Ältesten selbst in die Mutter- oder Vaterrolle schlüpfen, so Christine Dreier. Auch das könne man im Kinderschutzhaus beobachten. Manchmal sei es dann sinnvoll, die Kinder bei unterschiedlichen Pflegefamilien unterzubringen, damit das älteste auch noch mal Kind sein darf.

Begrüßung wie bei den coolen Kids

Der Dreijährige unter den Geschwistern schaut jedem Neuen mit großen Augen ins Gesicht. Er sagt nichts, hält lediglich seine flache Hand hoch – zum Abschlagen. Dann Faust auf Faust, ganz sanft, und dann schnell die Hand öffnen, die Finger sternförmig auseinanderziehen und ein langgezogenes „Pscht“ nuscheln. Ein Gruß wie aus der Rapperszene. So hat der Kleine gelernt, Kontakt aufzunehmen. Es funktioniert: Der Erwachsene lächelt. Der Junge lächelt zurück.

Die Organisation hinter dem Kinderschutzhaus

Plan B Ruhr vermittelt Kinder nicht nur an deutsche Pflegefamilien. Unterschiedliche Nationalitäten haben die Pflegeeltern, die der Verein schult. So sei laut Geschäftsführerin Gülseren Çelebi eine „kultursensible Unterbringung“ möglich, wenn das Landesjugendamt entscheidet, dass Kinder nicht bei den leiblichen Eltern leben können.

Plan B Ruhr, 2011 gegründet, betreut auch unbegleitete Flüchtlingskinder und bietet Integrationsberatung an. planb-ruhr.de